Wirbelsäule: Statik

Heilkundelexikon

Wirbelsäule: Statik


C. Statik und Mechanik der Wirbelsäule.

Eingehende eigene Studien über die Architektur der Wirbelspongiosa (siehe oben) beim Menschen und bei verschiedenen Thieren haben den Verfasser (1874) zu dem Ergebniss geführt, dass sowohl die menschlichen, wie die thierischen Wirbelsäulen eine Fachwerkconstruction darstellen. Das
Fachwerk besteht bekanntlich aus zwei längeren parallelen Balken, sowie senkrecht und schräg von einem zum anderen verlaufenden kürzeren »Streben«, der Fachwerksfüllung. Die senkrechten Streben theilen das Fachwerk in einzelne quadratische (oder rechteckige) Fächer. Die schrägen Balken schnei-den sich unter rechtem Winkel. Der Schneidepunkt heisst »Knotenpunkt«. Das Fachwerk ist die einzige Construction, welche man, ohne den inneren Zusammenhalt und die Tragfähigkeit zu gefährden, um einen rechten Winkel drehen, d. h. aus der liegenden, wagerechten in die stehende, senkrechte und die dazwischen liegenden Stellungen bringen kann. Das Fachwerk war und ist demnach die einzige mechanisch mögliche Construction für ein Ge-bilde, das wie die Wirbelsäule nicht nur beim Menschen, sondern auch bei Thieren in den verschiedensten Stellungen, ein Extremitätenpaar mit dem anderen verbindend, das Hauptgerüst für den ganzen Wirbelthierleib ab-geben, die Last der Eingeweide, den Kopf, die Extremitäten tragen oder sich auf beide Paare derselben, oder aber nur auf ein solches stützen kann. Dem oberen Längsbalken ? »Druckbaum« ? des horizontal gedachten Fachwerks entsprechen die vom vorderen zum hinteren Proc. obliquus der Thiere (vom oberen zum unteren beim Menschen), dem unteren Längsbalken ? »Streckbaum« ? die von vorn nach hinten (beim Menschen von oben nach unten) im Wirbelkörper verlaufenden Knochenbälkchen, welche letztere durch das Lig. longitudinale anticum unterstützt werden. Die Füllungsglieder des Fachwerks werden durch die schräg von den Proc. obliqui zur gegenüber-liegenden Fläche des Wirbelkörpers ziehenden Systeme dargestellt. Die vom Verfasser sogenannten »Knotenpunkte« (siehe oben) stimmen, soweit die durch mannigfache anderweitige mechanische Einflüsse (Nerven, Rippen) com-plicirte und modificirte Construction es gestattet, mit den Knotenpunkten eines Fachwerks überein. Ein Wirbel ist sonach mit einem »Fache« zu ver-gleichen, d. h. eigentlich haben wir im Wirbel auf jeder Seite je ein Fach-werk, welche beide nach unten (beim Menschen vorn) convergiren und sich sogar durchkreuzen, und an der offenen dritten Seite durch den aus zwei starken Lamellen compacter Substanz (mit den nöthigen »Streben«) aufge-bauten Wirbelbogen geschlossen werden.

Der Hauptunterschied zwischen der menschlichen und der thierischen Wirbelsäule besteht darin, dass bei ersterer infolge des vorwiegend auf-rechten Ganges die diesem entsprechenden senkrechten nebst den sie stützenden Querbalken in den Vordergrund treten. Die Wirbelsäule des Vierfüssers ist eine Fachwerksbrücke, wie es unsere modernen eisernen Eisenbahnbrücken sind. Die Wirbelsäule des Menschen ist ein aufgerichtetes Fachwerk, das nach unten hin ? wie der Kegel und die Pyramide ? verstärkt ist. Bei genauerer Betrachtung zeigen die meisten thierischen Wirbelsäulen einen den eisernen Bogenbrücken (Unterart des Fachwerks) entsprechenden Bau, also Verstärkung nach den beiden Widerlagern (Extremitätenpaare) hin. Die Dimensionen der Fächer (Wirbel) nehmen von einem nahe der Mitte gelegenen, der grössten Höhe entsprechen-den Punkte ? Inclinationspunkt ? nach vorn und hinten hin zu. Dass auch beim Menschen noch Reste dieser Erscheinung nachweisbar sind, davon war oben bereits die Rede. Die Bewegungen, welche die Wirbelsäule als Ganzes ausführen kann, sind Biegungen oder Beugungen nach allen Seiten hin, ferner eine spiralige Drehung um die eigene Längsachse oder eine dieser nahe gelegenen Linie.

Die Biegungen pflegt man zu trennen:
1. in solche nach vorn und hinten;
2. in die nach rechts und links, d. h. also Drehung um eine horizontale quere und eine horizontale sagittale Achse, wozu dann
3. die Drehung um eine senkrechte Achse kommt. Es erhebt sich nun die Frage, welche von den beiden directen Verbindungen der Wirbel unter einander, die Symphyse der
Körper oder die Gelenke der schrägen Fortsätze, für die Bewegungen die massgebende sei. Nach den Untersuchungen von H. v. Meyer deutet die un-bestimmte Gestaltung der Gelenkflächen ebenso sehr wie ihre oft auftretende Incongruenz darauf hin, dass die Gelenke nur die Bewegungen der Wirbel-säule gestatten, in manchen Beziehungen regeln und modificiren, dass sie aber nicht das eigentlich mechanisch wesentliche Moment darstellen. ? Die Wirbelkörper können in den Symphysen bewegt werden, und zwar desto ausgiebiger, je mehr die Zwischenwirbelscheiben in senkrechter und je weniger sie in den horizontalen Richtungen entwickelt sind. Die Scheiben werden bei allen Bewegungen um wagerechte Achsen auf der einen Seite gedehnt und auf der anderen zusammengedrückt. Das Ausmass der Bewegung be-trug an der Wirbelsäule eines 26jährigen Jünglings an den einzelnen Wirbeln

Fig. 5: Horizontalschnitt des 3. Lendenwirbels, (Aus TOLDT'S Atlas.)
Fig. 5: Horizontalschnitt des 3. Lendenwirbels, (Aus TOLDT'S Atlas.)


3?7 Winkelgrade; die Summe dieser Winkel war vom 2. Hals- bis zum letzten Lendenwirbel 50°. Dehnung und Compression waren gleichmässig und gleichzeitig vorhanden, die neutrale Achse ist daher für die seitlichen Bewe-gungen der Wirbelsäule in die Medianebene zu legen. Für die Bewegungen nach vorn und hinten liegt sie dagegen nicht in der Mitte zwischen vor-derem und hinterem Rande des Wirbelkörpers, sondern weiter nach hinten, da für diese Bewegungen die Lage der Gelenkflächen in Betracht zu ziehen ist, deren Einfluss bei den seitlichen Bewegungen wegen ihrer paarigen An-ordnung und gleich grossen Entfernung von der Medianebene sich aufhebt. Verfasser legt die neutrale Achse in das Centrum der Pulpa der Scheibe, ein Punkt, welcher etwa auf der Grenze zwischen dem mittleren und hinteren Drittel der Medianlinie des Wirbelkörpers liegt. Dass die neutrale Achse bei Vorwiegen bestimmter Bewegungen und Haltungen seitliche Verschiebungen, ebenso wie solche nach vorn und hinten erleiden kann, soll besonders her-vorgehoben werden. Wir stehen hier an einem Punkte, wo bei längerer Dauer solcher Verhältnisse relative Pixirungen der Stellungen oder doch der Bewegungen eintreten können, die unmerklich in das pathologische Gebiet überführen. Wenn irgendwo, so sind hier diese Grenzgebiete zwischen Norm und Abweichung nicht nur von hohem theoretischen Interesse, sondern auch von grösster praktischer Wichtigkeit für den Arzt.
Aus H. Meyer's Messungen ergab sich ferner, dass in der Brustgegend, namentlich in ihrem oberen Abschnitte, die Beweglichkeit zwischen den

Fig. 6: Sagittalschnitt des 6. Brustwirbels. (Aus TOLDT'S Atlas.)
Fig. 6: Sagittalschnitt des 6. Brustwirbels. (Aus TOLDT'S Atlas.)


Wirbeln die geringste war, eine Thatsache, welche wir mit Meyer gewiss ungezwungen durch den Widerstand der oberen Rippen mit ihrer relativ starren Brustbeinverbindung erklären können. Die spiralige Drehung der Wirbelsäule ist an den oberen Theilen der Wirbelsäule in höherem Masse möglich als an den unteren. Hemmend wirken hier vor allem die Proc. ob-liqui. Den Winkel zwischen der stärksten Beugung nach vorn und hinten bestimmte Meyer an einer median durchschnittenen Wirbelsäule zu 71°, nach Ausschluss der Halswirbelsäule auf 64°. Die grösste Beweglichkeit
Fig. 7.: Frontalschnitt des 2. Lendenwirbels. (Aus TOLDT'S Atlas.)
Fig. 7.: Frontalschnitt des 2. Lendenwirbels. (Aus TOLDT'S Atlas.)

zeigten die Lenden- und die Halsabschnitte. Die Halswirbelsäule kann so stark nach vorn und nach hinten gebogen werden, dass die Differenz 90° beträgt. Dabei verändert sich natürlich die absolute Länge in der vorderen Mittellinie, und zwar betrug diese (vom Atlas bis zum 1. Brustwirbel) bei der Vorwärtsbeugung 115 Mm., bei der Rückwärtsbeugung 143 Mm. Die Lendenwirbelsäule steht der Hals Wirbelsäule in dieser Hinsicht bedeutend nach. Hier beträgt die Differenz zwischen den Extremen 31°, ein noch
immerhin stattliches Ausmass, das auf die drei unteren Lendenwirbel ent-fällt, während der darüber gelegene, zehnmal längere Abschnitt bis zum 1. Brustwirbel, zusammen nur ungefähr ebensoviel Beweglichkeit zeigte. Dass viele Menschen und gerade Erwachsene imstande sind, die theoretisch möglichen Bewegungen auch wirklich auszuführen, davon kann man sich oft überzeugen. Die sogenannten Schlangenmenschen sind durchaus nicht anders org&nisirt als wir alle, auch sind nicht etwa ihre Symphysen und Gelenke besonders gedehnt oder beweglicher, es kommt wesentlich auf die richtige Anwendung und fast noch mehr auf die rechtzeitige Ausserthätig-keitsetzung von (antagonistischen) Muskeln an, so z. B. der Bauchmuskeln bei starken Biegungen nach hinten (H. Virchow).


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