Wirbelsäule: Krümmungen

Heilkundelexikon

Wirbelsäule: Krümmungen


Entstehung der Krümmungen.

Die Krümmungen der menschlichen Wirbelsäule lassen sich auf die Verhältnisse bei Thieren zurückführen. Wenn ein vierfüssiges Säugethier sich auf den Hinterbeinen aufrichtet ? Hunde, Pferde, Bären, Affen u. a. können dies ja ?, so wird die Wirbelsäule hauptsächlich im Lend entheile nach oben und dann nach hinten gebogen, derart, dass eine der mensch-lichen ganz ähnliche Krümmung hier entstehen muss. Ein wesentlicher Unter-schied besteht zwischen der vorübergehend willkürlich gebogenen Wirbel-säule des Thieres und der dauernd gekrümmten Lendenwirbelsäule des Menschen nicht, abgesehen von einigen Formveränderungen, die vor allem den letzten Lendenwirbel betreffen. Im übrigen brauchen wir uns nur die Knickungen, Winkel an dem hinteren Theile der Brusthöhle und besonders an der Grenze zwischen Hals und Brust ein wenig abgerundet zu denken ? für die Brustwirbelsäule ist dies schon bei vielen Thieren (Elephant u. a.) der Fall ?, um die Form der menschlichen Wirbelsäule daraus hervorgehen zu sehen. Entwickiungsgeschichtlich entstehen die Wirbelsäulekrümmungen erst im Laufe der Zeit. Anfänglich ist die Wirbelsäule von oben bis unten nach vorn gekrümmt, bei älteren Embryonen wird die convexe Krümmung am Promontorium sichtbar, während der Rest der Wirbelsäule fast geradlinig ist. Beim Neugeborenen ist die Lendenkrümmung schon ganz deutlich, ebenso die Halskrümmung, am schwächsten die Brustconcavität. Erst im Laufe des weiteren Wachsthums und infolge lange dauernder und oft wiederholter Uebung werden dann die für den Erwachsenen typischen, immerhin im Grade individuell schwankenden Krümmungen ausgebildet. Wie viel nun hierbei auf die ererbte Anlage kommt und wie viel rein mechanisch wäh-rend des Lebens erworben wird, das soll hier nicht des Näheren untersucht werden. Beide Factoren kommen gleich wesentlich, wenn auch nicht viel-leicht in gleich hohem Masse in Betracht.

Ererbte Dinge sind ausser der Form des Wirbelkörpers und der Zwischenscheiben das Lig. longitudinale anticum ? nach des Verfassers Ansicht das letzte Rudiment sub- oder prävertebraler Muskeln ? sowie die Lig. t'lava der Bogen. Diese Bänder werden das Bestreben haben müssen, nach Dehnungen wieder in die Ruhelage zurückzukehren. Letztere kann sich aber durch wiederholte Dehnungen (elastische Nachwirkung), also durch wiederholte Muskelthätigkeit allmählich verändern und die Bandapparate werden sich bis zu einem gewissen Grade auch den veränderten Verhält-nissen morphologisch anpassen. »So wird also die freiwillig gesuchte und unterhaltene Haltung der Wirbelsäule Ursache für eine solche Entwicklung der Bandapparate derselben, dass diese zuletzt imstande sind, für sich allein schon die Fortdauer der Haltung zu sichern. Hierdurch erklärt sich denn auch in befriedigender Weise die Verschiedenheit in der habituellen Ruhe-haltung verschiedener Individuen, indem nämlich durch das Verhalten der Bänder die Haltungen permanent gemacht werden; und so müssen die Ge-wohnheitshaltungen entstehen, welche theils die früher bezeichneten Extreme, theils Zwischenformen zwischen diesen sind« (H. Meyer). Hierbei soll aber nicht ausseracht gelassen werden, dass die Form der Wirbelkörper, die sich im Verlaufe des Wachsthums mehr und mehr aus-prägt, eine wichtige, vielfach bestimmende Rolle spielt. Bei gleich grosser Höhe der Zwischenscheiben müssen convexe Krümmungen dort entstehen, wo die Wirbelkörper höher sind, concave da, wo sie niedriger sind, d. h. sind die Wirbelkörper vorn höher als hinten, so muss ? ceteris paribus ? eine Cpnvexität nach vorn eintreten. Dies ist nun bei den unteren Lenden-wirbeln der Fall, bei den Halswirbeln aber nicht. Dagegen stimmt die Form der Brustwirbel (vorn niedriger) mit der vorderen Concavität der
Brustkrümmung überein. Verfasser giebt hier (nach Aeby, 1879, pag. 90 und91) die absoluten Masse für die vordere und hintere Höhe der Wirbelkörper in Millimetern:

Vordere HöheHintere HöheDifferenz zu gunsten der hinteren Höhe
3. Halswirbel11, 912, 1+ 0, 2
4. ?11, 311, 9+ 0, 6
5. ?11, 411, 8+ 0, 4
6. ?11, 712, 1+ 0, 4
7. ?2, 313, 3+1, 0
1. Brustwirbel14, 315, 3+1, 0
2. ?16, 217, 0+0, 8
3. ?16, 917, 6+0, 7
4. ?17, 418, 1+ 0, 7
5. ?17, 419, 1+1, 7
6. ?16, 919, 5+ 2, 6
7. ?17, 519, 4+1, 9
8. ?18, 820, 2+ 1, 4
9. ?19, 320, 8+1, 5
10. ?21, 722, 2+ 0, 5
11. ?21, 923, 4+1, 5
12. ?23, 634, 8+1, 2
1. Lendenwirbel25, 626, 0+ 0, 4
2. ?26, 526, 5+ 0, 0

Von hier an ist die vordere Höhe die bedeutendere, und zwar über-trifft sie die hintere um stetig steigende Werthe:

Vordere HöheHintere HöheDifferenz zu gunsten der hinteren Höhe
3. Lendenwirbel 28, 227, 3+ 0, 9
4. ?28, 726, 3+ 2, 4
5. ?29, 823, 6+ 6, 2
1. Kreuzwirbel32, 924, 5+ 8, 4

Die Wirbelsäule muss ferner ? abgesehen von allen individuellen Unterschieden ? sich bei der Belastung und Entlastung verschieden ver-halten. Die Krümmungen müssen sich in jenem Falle verstärken, in diesem vermindern. Die Polgen der Belastung können sich zeigen: 1. vorübergehend ? oder 2. bleibend bei normalen Belastungen und Widerständen, 3. blei-bend bei abnormen Belastungen und Widerständen: Kyphosen, Lordosen, Skoliosen.

Bei der Entlastung einer belastet gewesenen Wirbelsäule müssen sich die Grade der drei veränderlichen Krümmungen (also exclusive Kreuzbein) vermindern. Die Bogen müssen flacher, die Sehnen länger werden. Legt sich also ein Mensch etwa mit dem Rücken horizontal, so muss er länger sein und bei andauernder Rückenlage nochmals länger werden, als er im Stehen war. Dies ist ein einfacher Ausdruck der mathematisch leicht verständlichen Verlängerung der Bogensehnen bei der Abflachung der Bogen, also Ver-grösserung des Krümmungsdurchmessers. Hierzu kommt aber noch ein zweites Moment. Dauert die Belastung merkliche oder längere Zeit, so werden die
Zwischenwirbelscheiben, wenn auch nur wenig, so doch deutlich zusammengedrückt, ' der Mensch wird also bei längerer aufrechter Körper-haltung kleiner. Um die frühere Grosse wieder zu erreichen, braucht er längere Zeit. Ist man also im Laufe des Tages bis zum Abend kleiner ge-worden, so wächst man wieder während der Nachtruhe und ist also morgens Früh am längsten. Daher soll man u. a. die Körpermessungen morgens Früh vornehmen, wenn sie genau sein sollen (Recrutenaushebung), wobei aller-dings stillschweigend, wenn auch nicht immer mit Recht vorausgesetzt wird, dass die betreffenden Individuen die Nacht über ausgestreckt gelegen haben. Ferner erklärt sich hierdurch die bekannte Erscheinung, dass man nach an-haltendem Bettlager länger erscheint. Andauernde horizontale Lage ? ohne dazwischen eintretende aufrechte Haltung ? muss natürlich auf die Zwischen-wirbelscheiben stärker einwirken, als die gewöhnliche Abwechslung vonBe-und Entlastung, bei der bekanntlich letztere erheblich schlechter fortkommt als erstere. Die natürliche Folge ungenügender Entlastungen muss eine, wenn auch minimale, so schliesslich doch nachweisbare Abnahme in der Höhe der Scheiben und gleichzeitig eine Zunahme der normalen Biegungen sein. So wird der Mensch nicht nur im Laufe des Tages, sondern auch des Lebens allmählich kleiner. Besonders auffallend wird letzteres erst in den späteren Jahrzehnten, wohl hauptsächlich wegen dauernder Veränderungen in den physikalischen Eigenschaften der Zwischenwirbelscheiben wie der Gewebe überhaupt. Die Differenzen der Länge, die sich im Laufe des Tages einstellen, aber auch diejenigen zwischen kurz hintereinander eingenommenen verschiedenen Körperhaltungen (Stehen, Liegen) sind sehr beträchtliche. Für plötzliche Aenderungen schwanken. die Angaben zwischen 15 und 30 Mm. auf 160?170 Cm., während die Zunahme der Körperlänge im Stehennach 7?8stündiger Nachtruhe 20 Mm. und mehr für den Erwachsenen betragen kann. Die Körperlänge eines 40jährigen Mannes von 179 Cm. (Maximum) betrug nach eigenen Messungen des Verfassers früh morgens im Stehen 21?26 Mm. mehr als abends, bei einem 121/3jährigen Knaben von 151 Cm. 13 Mm. mehr, bei einem 10jährigen Mädchen von 131, 5 Cm. 11 Mm. mehr, bei einem Mädchen von S1/2 Jahren und 127 Cm. Länge 2 bis 3 Mm. mehr. Von grösster Bedeutung für die heranwachsende schulpflichtige Jugend ist die praktische Nutzanwendung der Lehren von der Statik und Mechanik der Wirbelsäule. Sehr beherzigenswerth sind aber und bleiben ? auch wenn wir die schönsten und zweckmässigsten Schulbänke haben ? die Worte H. Meyer's: »Mit einer Schulbank, welche nach diesen Grundsätzen gebaut ist, ist es möglich, die Nachtheile (Krummsitzen, Schiefsitzen) zu ver-meiden, welche bei schlechtem Baue der Schulbank nothwendig gegeben sind; dazu gehört aber vor allen Dingen, dass der beaufsichtigende Lehrer auch von den Vortheilen des zweckmässigen Baues Gebrauch zu machen den Willen hat«, vorausgesetzt, dass er das genügende Verständniss dafür besitzt, möchte Verfasser hinzufügen.

Weniger gefährlich, aber für den Erwachsenen unbequem und für die Kinder gelegentlich auch schädlich sind die fehlerhaft, wenn auch vielleicht sehr stilvoll construirten Lehnen gerade an modernen Stühlen, von den Abtheilungen III. Classe vieler Eisenbahnen ganz zu schweigen. Es erübrigt noch, die Mechanik einzelner Wirbelverbindungen zu be-sprechen. Die Bewegungen zwischen Hinterhauptbein und Atlas können wir auf solche um zwei horizontale Achsen, eine quere und eine sagittale, zurück-führen, d. h. also Bewegung nach vorn und hinten, nach rechts und links. Die Drehung um die senkrechte Achse wird zwischen Atlas und Hinterhaupts-bein oder Kopf einer-, Epistropheus andererseits ausgeführt. Die Bewegung zwischen dem vorderen Atlasbogen, sowie dem Querbande des Atlas gegen den Zahn des Epistropheus erscheint auf den ersten Blick als eine einfache Drehung, bei näherem Zusehen findet man aber, etwa nach horizontaler Durchsägung in der Mitte des Zahnes und des vorderen Atlasbogens, dass infolge der eigenthümlichen Construction der Gelenkflächen an den Seiten-theilen von Atlas und Axis, mit den Drehungen auch Hebungen und Sen-kungen des einen Wirbels gegen den anderen einhergehen. Das Ausmass der letzteren beträgt etwa einen starken Millimeter. Ob die Hebung des Epistropheus bei der Drehung irgendwie in Zusammenhang mit dem Ver-halten des Rückenmarks (Vermeidung einer Zerrung) gebracht werden kann, ist zweifelhaft. Henke hatte dies früher gethan, ist jedoch wieder hiervon zurückgekommen. Jedenfalls steht aber fest, dass es sich um eine schrauben- ähnliche Vorrichtung handelt und dass die Gelenkflächen von Atlas und Epistropheus, welche bei genau sagittaler Stellung des Atlas (Kopf gerade nach vorn) sich nur in einem schmalen Streifen berühren, bei Drehungen des Kopfes grössere Berührungsflächen zeigen. Sie werden daher geneigt sein, die genau sagittale Einstellung zu verlassen. Bekanntlich halten wir den Kopf gewöhnlich etwas gedreht; es erfordert besondere Aufmerksamkeit, d. h. Muskelthätigkeit, den Kopf geradeaus zu stellen und ihn in dieser Haltung einige Zeit zu fixiren. Längere Zeit dies zu thun, ist schwierig und erfordert Anstrengung und Uebung.

Wirbelsäule und Becken. Die Wirbelsäule überträgt den auf ihr lastenden Druck auf das Kreuzbein, und zwar zunächst auf den ersten Kreuzwirbel. Die Schwerlinie des Rumpfes fällt aber nicht in den Körper dieses Wirbels, sondern in den dritten Kreuzwirbel. In der oben erläuterten normalen oder militärischen Haltung geht eine Senkrechte vom Tuberculum anticum des Atlas durch den 6. Halswirbel, den 9. Brustwirbel und den 3. Kreuzwirbel. Da der Schwerpunkt des Rumpfes bei dieser Haltung in der Gegend etwas vor dem 8. oder 9. Brustwirbel liegt, so muss die Schwer-linie des Rumpfes gleichfalls ungefähr in den 3. Kreuzwirbel fallen. Der Beckentheil des Kreuzbeins (der Sacraltheil der Wirbelsäule im eigentlichen vergleichend-anatomischen und auch mechanischen Sinne), welcher sich seiner ganzen Länge nach mit den Hüftbeinen (Pacies auricularis) verbindet, nimmt die Belastung vermittels seiner ganzen Ausdehnung auf und überträgt sie auf die Hüftbeine. Diese Verbindung ist aber nicht nur derart, dass das Kreuzbein durch die Hüftbeine gestützt, am Heruntersinken gehindert wird, sondern es wird auch so festgehalten, dass es nicht nach oben, ebenso wenig nach vorn oder hinten herausgezogen oder -gedrückt werden kann. (S. oben Bänder.) Die Belastung wird vom Kreuzbein auf die beiden Hüft-beine in eigentümlicher Weise übertragen. Das Becken stellt ein Gewölbe dar, und das Kreuzbein erscheint zunächst als der Schlussstein des Ge-wölbes. Während sich aber der Schlussstein eines Gewölbes fest als ein Keil von oben her eindrängt, ist das Kreuzbein vorn (unten) breiter als hinten (oben). Es müssen deshalb noch Bandapparate vorhanden sein, welche das Kreuzbein in der Art. sacro-iliaca festhalten; dies sind die Ligg. vaga (posteriora). Das Kreuzbein, welches in dem eben genannten Gelenke (Amphiarthrose) sich ein wenig bewegen kann, sinkt bei Belastung etwas hinunter und übt dadurch einen Zug auf die Ligamenta vaga aus. Die Tuberositas des Hüftbeins wird hierdurch nach innen gezogen und das Kreuzbein zwi-schen die Gelenkflächen der Hüftbeine eingepresst ? natürlich umso fester, je stärker die Belastung wirkt. Es handelt sich also um eine Drehung des Kreuzbeins um eine quere wagerechte Achse, die öfters als kleiner
Zapfen an der Facies auricularis körperlich ausgeprägt erscheint (s. oben). Das Mass dieser Bewegung beträgt 1?2 Mm. (H. v. Meyer); an der Schambeinsymphyse muss eine-Dehnung um dieselbe Distanz stattfinden, da eine Biegung des Knochens nicht nachweisbar ist. Auch die Ligamenta tuberoso-sacrum und spinososacrum lässt H. v. Meyer eine Rolle bei diesen Vorgängen spielen. Aehnlich wie das Kreuzbein verhält sich der 5. Lendenwirbel. Er wird durch die Ligg. ilio-lumbalia mit dem Hüftbeine verbunden. Mechanisch wird er in die Sphäre des Kreuzbeins gezogen, wie oben erwähnt wurde, auch öfters, ein- oder beiderseitig, morphologisch (Assimilation).


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