Zwillinge: Doppelbildungen

Heilkundelexikon

Zwillinge: Doppelbildungen


Doppelbildungen der Frucht sind, wie leicht einzusehen, während der Schwangerschaft nicht zu diagnosticiren. Intra partuin kann man eine derartige Complication nur dann vermuthen, wenn die Fruchtwässer abgeflossen sind und die Geburt ohne nachweisbaren Grund stockt oder einen ungewöhnlichen Verlauf nimmt. Es wird nämlich meist das eine Ende der Längsachse der einen Hälfte der Doppelfrucht theilweise oder zur Gänze geboren, während der Rumpf nicht vorrückt, ohne dass sich aus der Stellung oder Grosse der Frucht, der Beschaffenheit des Beckens und den begleitenden Nebenumständen eine Aufklärung über die Geburtsbehinderung ergiebt. Unter solchen Verhältnissen führe man zur Orientirung, d. h. um die Veranlassung der GeburtsVerzögerung zu finden, die ganze Hand in das Becken ein. Man kann nämlich auf diese Weise zuweilen die Vereinigung beider Früchte finden, und zwar umso eher, wenn man sich daran erinnert, dass die Vereinigung stets an den entsprechenden gleichen Theilen statthat. Bei diesen Missbildungen sind Schädellagen am häufigsten. Beckenendlagen seltener und Querlagen am seltensten. Von wesentlichem Einfluss auf den Geburtsverlauf ist die Intensität der Wehenthätigkeit, die Weite des Beckens, die Art und Weise der Einstellung der Doppelfrucht, deren Grosse, der Umstand, ob sie lebt oder abgestorben ist, ob eine Spaltung der Bauchwand mit Ektopie der Eingeweide besteht und schliesslich die Art und Weise der Verschmelzung.

Man unterscheidet nach G. Veit131) in geburtshilflicher Beziehung am besten drei Arten von Doppelbildungen, und zwar folgende:
I. Die unvollständige Doppelbildung am oberen Fruchtende (Diprosopus und Kephalothorakopagus) oder am unteren (Dipygus);
II. Fruchte, die mit dem oberen Rumpfende untereinander zusammen hängen (Dikephalus und Thorakopagus);
III. Früchte, die am Rumpfe miteinander zusammenhängen (Dikephalus und Thorakopagus).

1. Bei dem Diprosopus, bei dem die Verdoppelung den Vorderkopf in grösserem oder geringerem Umfange betrifft, während nach dem Hinterhaupte zu sich die Doppelbildung vereinfacht, kann, wenn die Missbildung eine solche nur niederen Grades ist, die Geburt durch die Naturkräfte beendet werden, eventuell die
Zange ausreichen, sei der Kopf vorangehend oder nachfolgend. Bei den höheren Graden dagegen kann die Verkleinerung und Zertrümmerung des Kopfes nothwendig werden, gleichgiltig ob es der vorangehende oder nachfolgende ist.

2. Bei dem Kephalothorakopagus wachsen die Schwierigkeiten wegen des verschmolzenen Kopfes. Dieser wird schwer geboren und kann zuweilen die Perforation, sowie die Verkleinerung erheischen. Auch der Durchtritt der Rümpfe ist schwierig, weil ein Austritt nach dem Modus der Selbstentwicklung wegen der weitreichenden Verschmelzung nicht möglich ist, denn die beiden ihrer ganzen vorderen Körperfläche nach miteinander vereinigten Früchte müssen einander parallel gleichzeitig hervortreten. Schädellagen sind hier Beckenendlagen vorzuziehen.

3. Der Dipygus wird in der Regel leicht geboren, mag er sich mit dem Schädel oder dem Doppelsteisse einstellen, da das zweite Fusspaar keinen grossen Umfang besitzt und überdies meist unvollkommen entwickelt ist.

4. Bei dem Kraniopagus sind die Köpfe meist am Scheitel vereinigt, und zwar symmetrisch oder asymmetrisch. Viel seltener sind sie an der Stirne oder am Hinterhaupte verwachsen. Im ersteren Falle liegen die beiden Rümpfe in einer Linie und geht die Geburt gewöhnlich leicht vor sich. Auch wenn beide Früchte in einem Winkel gegeneinander stehen, ist meist eine gegenseitige Geburtsbehinderung nicht leicht möglich. Bei den ausgesprochensten Formen und vollständiger Entwicklung beider Früchte ist eine andere Einstellung als die mit dem Beckenende nicht möglich. Sind die Früchte an der Stirne oder am Hinterhaupte miteinander verschmolzen, so liegen sie neben oder vor einander.

5. Bei dem Ischiopagus sind die beiden Körper am Becken mit einander vereinigt und bilden daher auch, ebenso wie bei der Verschmelzung der Scheitel, eine fortlaufende gerade Linie. Liegen die Früchte in der Längslage, d. h. der eine Kopf nach oben, der andere nach unten, so wird zuerst der eine Kopf und zum Schluss der zweite Kopf geboren. Zur Erleichterung der Geburt hat man nur darauf zu achten, dass sich nicht alle vier unteren Extremitäten an dem zweiten Steisse in die Höhe schlagen, sondern dass jedes betreffende Paar mit dem zugehörigen Leibe zutage tritt.

6. Bei dem Pygopagus, bei dem zwei vollständig entwickelte Früchte da sind, die nur am Kreuz- und am Steissbeine miteinander zusammenhängen, kann der Geburtsmechanismus ein verschiedener sein. Besteht eine Schädellage, so wird die eine Frucht bis zum Steisse geboren, worauf die dazu gehörigen unteren Extremitäten nach dem Modus der Selbstentwicklung hervortreten. Dann folgt das zweite Paar der Unterextremitäten in gleicher Weise, hierauf der Rumpf und schliesslich der zweite Kopf. Sind die Früchte klein, abgestorben, oder ist die eine, was nicht selten der Fall ist, mangelhaft entwickelt, so können sie auch gleichzeitig, einander parallel, das Becken passiren. Ein Kopf legt sich in den Nackenausschnitt des anderen und es wird einer nach dem anderen herausgetrieben, worauf die Rümpfe und zuletzt die beiden Paare der unteren Extremitäten folgen. Bei bestehender Beckenendlage liegen zwei Unterextremitäten vor oder gar vier. Liegt ein Unterextremitätenpaar vor, so geht die Geburt bis zum Steiss vor sich, worauf das zweite Paar der Beine herabsteigt und beide Rümpfe geboren werden. Liegen alle vier Beine vor, so treten sie alle herab, worauf dann die Rümpfe und schliesslich die Köpfe folgen.
Fig. 144
Fig. 144

7. Der Dikephalus (s. Fig. 144) hat bei einfachem oder nur angedeutet gedoppeltem Rumpfe zwei Köpfe. Der Geburtsmechanismus ist nicht immer gleich. Bei Einstellung mit den Köpfen legt sich der eine an den Hals des anderen und treten beide gleichzeitig durch das Becken, namentlich wenn sie klein oder ungleich gross sind. Anderemale tritt der eine Kopf hervor, stemmt sich mit dem Halsausschnitt unter dem einen Schambeißast an, worauf der Rumpf mit den unteren Extremitäten nach dem Vorgang der Selbstentwicklung auf der entgegengesetzten Seite hervorkommt und schliesslich der zweite Kopf als letzter Fruchttheil hervorschiesst. Stellt sich dagegen eine solche Doppelbildung mit dem Steiss ein, so geht die Geburt bis zu den Köpfen ohne Schwierigkeiten vor sich, worauf sie stockt. Selten legt sich der eine Kopf in den Nacken ausschnitt des anderen, so dass beide gleichzeitig hervortreten. Gewöhnlich muss man operativ eingreifen, d. h. zuerst den hinterliegenden und dann den vorderliegenden Kopf manuell entwickeln. Den Haken darf man hierzu nicht verwenden, da die Gefahr zu nahe liegt, dass er ausreisst und die Mutter verletzt. Nur im Falle der grössten Noth zertrümmert man den einen Kopf, um für den anderen Raum zu schaffen, oder trennt ihn gar ab. Die
Zange kommt nicht in Verwendung. Ausnahmsweise nur dürfte es gerechtfertigt sein, den einen bereits geborenen Kopf abzutrennen und hierauf die Wendung auf die Füsse vorzunehmen, wie dies Ratel132) tnat. in bedeutendem Masse können sich die Schwierigkeiten steigern, wenn die Spaltung der Wirbelsäule weiter nach abwärts rückt und der Dikephalus drei- oder vierarmig oder gar mehr als zweibeinig wird. Findet sich bei einem mehr als zweibeinigen Dikephalus eine Beckenendlage, so muss immer die dritte, respective auch die vierte Unterextremität herabgeleitet werden, weil sonst die Geburt kein spontanes Ende findet, denn der Steiss kann sich sonst nicht in das Becken einstellen und herabtreten.
Fig. 145
Fig. 145

8. Der Thorakopagus (Fränkel133), Herrgot134). Das Doppelmonstrum mit zwei Köpfen, acht Extremitäten und doppelten, aber miteinander verschmolzenen Brustkästen (Fig. 145) ist die Doppelfrucht, die am häufigsten vorkommt und daher auch am häufigsten eine geburtshilfliche Intervention erheischt. Er präsentirt sich am häufigsten in der Schädel-, seltener in der Beckenend- und am seltensten in der Schulterlage. Die Schwierigkeiten des Geburtsverlaufes sind von der Grosse der Frucht, von der mehr oder minder nachgiebigen und dehnbaren Verbindung der Früchte und von der Verschiebbarkeit derselben an einander abhängig. Ein gleichzeitiger Austritt beider Früchte ist nur bei kleinen oder macerirten solchen möglich. Analog den anderen Doppelbildungen bildet stets der höher oben zurückgehaltene Theil der höher oben liegenden Frucht das Hinderniss für die Vorwärtsbewegung. Die Diagnose intra partum wird ausnahmslos immer erst dann gestellt, wenn die Geburt nach Hervortreten eines Fruchttheiles plötzlich stockt. Von diagnostischer Bedeutung ist die gleichzeitige Präsentation gleichnamiger Körpertheile, das Fehlen zweier Fruchtblasen, eventuell Bildungsfehler an den vorangehenden oder schon geborenen Fruchttheilen und das Ausbleiben der Rotation des bereits geborenen Kopfes nach dem mütterlichen Schenkel oder die Tendenz zum Zurückweichen des vorliegenden Theiles. Stellt sich ein Kopf ein, so wird dieser geboren und hierauf seine obere Rumpfhälfte bis zur Vereinigungsstelle beider Früchte. Dann folgt das zugehörige untere Extremitätenpaar nach dem Modus der Selbstentwicklung. Weiterhin kommt in gleicher Weise das zweite Unterextremitätenpaar und zuletzt der zweite Rumpf mit dem Kopfe. In anderen Fällen wird ein Kopf nach dem anderen geboren oder treten beide gleichzeitig hervor, der zweite an den Hals oder in die Achselhöhle der ersten Frucht gepresst, worauf der Doppelrumpf kommt und zum Schluss beide Paare der unteren Extremitäten. In einer gewissen Beziehung ist der Thorakopagus die günstigste Form der Doppelbildung, weil die Verbindungsbrücke zwischen beiden Früchten häufig nur aus Weichtheilen besteht und sich die Früchte daher ah einander verschieben können. Es kann sogar vorkommen, dass sich die eine Hälfte der Doppelfrucht in der Schädellage, die andere in der Beckenendlage einstellt und in dieser Weise herausgetrieben wird. Nach diesem Modus wurde das bekannte siamesische Zwillingspaar Eng und Chang geboren. Relativ günstig für die Fortbewegung ist die Einstellung mit dem einen oder beiden Beckenenden oder mit den Füssen. In erster Linie steht bei der Therapie solcher Missbildungen das exspectative Verfahren. Liegt einer oder liegen beide Köpfe beweglich im Beckeneingange und kann man im letzteren Falle mittels äusserer Manipulationen nicht den einen vom Beckeneingange bei Seite drängen, so ist die Wendung auf die Füsse, und zwar auf alle vier, das beste Verfahren. Ebenso hole man, wenn nur ein Fusspaar vorliegt, das zweite herab, weil sich die Geburt. auf diese Weise noch am raschesten beenden lässt. Stehen aber beide Köpfe fest im Becken, so soll man die Zange nur bei kleinen Köpfen anlegen. Am besten ist es aber auch hier, einen, eventuell beide Köpfe zu perforiren und hierauf auf die Füsse zu wenden. Stockt die Geburt nach Austritt des ersten Kopfes, so wende man sofort auf die Füsse. Bei räumlichen Missverhältnissen, bei denen man nicht zu den Füssen gelangen kann, ist es zu entschuldigen, wenn man eviscerirt.

Nur eine wissenschaftliche, aber keine praktische Bedeutung hat der Fall Kirchhoff's136), indem ein Thorakopagus in der Tube gefunden wurde. Es handelte sich um eine Tubarschwangerschaft, deren Product der 10. bis 11. Schwangerschaftswoche entsprach.

Die Therapie im allgemeinen bei Doppelbildungen hat die Aufgabe, bei Stockung der Geburt und Eintritt von Gefahren, namentlich für die Mutter, den natürlichen Geburtsvorgang so weit als möglich, künstlich nachzuahmen. Liegt ein Fusspaar vor, so leite man das zweite herab. Ist ein Kopf geboren, so strecke man ein Unterextremitätenpaar nach dem anderen herab und mache dann an diesem die Wendung. In anderen Fällen wieder kann man versuchen, nach Austritt des einen Kopfes den anderen manuell herauszuleiten u. s. w. Die blutigen Eingriffe sind möglichst einzuschränken, doch kann unter Umständen die Perforation, Decapitation, Exenteration, ja zuweilen vielleicht gar die Abtragung einer oder mehrerer Extremitäten ihre Entschuldigung finden. Die intrauterine Trennung der Verbindungsstelle beider Früchte wäre nur dann möglich, wenn sie bandförmig und sehr lange wäre. Bisher wurde dieser blutige Eingriff nur dreimal vorgenommen. Den einen Fall theilt Schönfeld136) mit. Um was für eine Doppelbildung es sich handelte, wird nicht angegeben, doch scheint ein Thorakopagus vorgelegen zu sein. Ebenso wenig ist zu entnehmen, ob die Früchte lebend oder todt waren. Sie wogen, wie es heisst, 171/, Pfund. Nach Durchtrennung der Verbindungsbrücke wurde die erste Frucht, deren Kopf mit der Zange bereits früher extrahirt worden war, leicht extrahirt, worauf die zweite auf die Füsse gewendet und extrahirt wurde. Im zweiten Falle, der von Pucci137) publicirt wurde, war die Doppelfrucht ein Thorakopagus. Zuerst wurde ein Kopf spontan geboren, worauf die dieser Frucht zukommenden Arme und Beine herabgeholt wurden. Nun zeigte es sich, dass beide Früchte durch eine fleischige Brücke miteinander zusammenhingen. Durch Zug an der geborenen Frucht wurde diese Brücke verlängert, woraufhin aber die andere Frucht, deren Kopf links auf dem Rande des Beckeneinganges lag, nicht vorrückte. Nachdem ein Wendungsversuch misslang, wurde die erwähnte Brücke mit der Scheere durchtrennt, worauf sich die zweite Frucht leicht mit der Zange entwickeln Hess. Die zweite Frucht kam lebend. Wie es sich mit dem Leben der ersten Frucht und dem Gewichte der beiden verhielt, wird in dem mir vorliegenden Referate nicht angegeben. Im dritten Falle lag ein Pygopagus vor. Grosse138), der ihn publicirt, theilt mit, dass ein Fusspaar aus der Vagina heraushing und das andere vorn in der Vagina lag. Die hoch in die Scheide hinaufgeführte Hand fand die Früchte auf der Seite liegend, die Rücken gegeneinander gekehrt und am Kreuzbein mit einander vereinigt. Da Extractionsversuche mit der Hand und mit dem stumpfen, über die Verbindung hinübergelegten Haken erfolglos blieben, wurde die Verschmelzung mit Messer und Scheere durchtrennt. Die männlichen, dem Ende des 8. Monates entsprechend entwickelten Früchte massen 15 und 12 72 Zoll und wogen 4 und 3 Pfund. Das Kreuzbein war gemeinschaftlich, aber stärker als normal. Der Rückenmarkscanal war durch die Operation eröffnet. Die Früchte scheinen intra partum abgestorben gewesen zu sein, da es im Referate heisst, dass alle vier Füsse blauroth und kalt gewesen seien. Unverantwortlich wäre es, bei bedeutenden Geburtsschwierigkeiten den Kaiserschnitt vorzunehmen, um die Früchte zu retten, da diese ja doch, wenige Ausnahmsfäile abgerechnet, stets lebensunfähig sind, wenn sie auch intrauterin leben.

Mir ist aus der Literatur nur ein Fall bekannt, und zwar der von Meyer und Hauch139), in dem die Geburt der Doppelfrucht mit der Gegenwart einer Placenta praevia complicirt war. Es handelte sich um einen nicht ausgetragenen Diprosopus anencepbalicus, der 1250 Grm. wog und 40 Cm. lang war, und neben dem ein Hydramnion, sowie eine Placenta praevia lateralis da war.


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So entsprechen vor allem die genannten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen nicht dem aktuellen Stand der Medizin, die Anwendung kann nicht nur die Diagnose einer Erkrankung verzögern, sondern auch direkt den Körper schädigen.

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