Zurechnungsfähigkeit: Zusammenfassung

Heilkundelexikon

Zurechnungsfähigkeit: Zusammenfassung


Wir haben im Vorstehenden eine Uebersicht gegeben, wie bei Bewusstlosigkeit und wie aus den krankhaften Störungen der Geistesthätigkeit Handlungen sich entwickeln, welche den Kranken mit dem Strafgesetze in Conflict bringen. Nie darf aber die Handlung selbst als Ausgangspunkt der Begutachtung des Zustandes eines Angeschuldigten genommen werden. Die Aufgabe des Arztes wird vielmehr darin bestehen, eine genaue Anamnese, den ganzen Lebensgang des Angeschuldigten zu geben und diesem einen Status praesens desselben hinzuzufügen. Ergeben sich aus der Aufnahme des letzteren, nachweisbare Störungen im Gebiete des peri-pherischen Nervensystems, Lähmungen, Krämpfe, Contracturen u. s. w., welche nach allgemeinen diagnostischen Grandsätzen auf Erkrankungen des Gehirns zurückzuführen sind, dann wird die Aufgabe ungemein erleichtert werden. Wo aus diesen objectiven Symptomen eine Hirnerkrankung nachweisbar, da wird man sehr selten fehl gehen, wenn man annimmt, dass dauernd oder zeitweise auch die Psyche krankhaft gestört ist; es wird sich diese Störung in den meisten Fällen auch ohne Schwierigkeit als eine krankhafte Abschwächung der geistigen Functionen nachweisen lassen. Unterstützend für
das Gutachten werden in Fällen von angeborenen abnormen Gehirnzuständen Vorbildungen des Schädels, wie andere Missbildungen sein. Sind solche soma-tische Symptome nicht vorhanden, dann wird sich in der Regel, wenn überhaupt krankhafte Symptome seitens der Psyche vorhanden sind oder vorhanden gewesen sind, nach der oben gegebenen Eintheilung der Zustand unter eine der besprochenen Formen einreihen lassen.

Erst nach der psychiatrischen Diagnose kommt die Erörterung, in welchem Zusammenhange die incriminirte Handlung mit der geistigen Störung steht. Der Entwurf zum Strafgesetzbuch des norddeutschen Bundes hatte verlangt, dass die Ausschliessung der freien Willensbestimmung »in Bezug auf die That« nachgewiesen werden müsse. Dieser Passus ist dann mit Recht gestrichen worden. Die tägliche Erfahrung in den Irrenhäusern lehrt, wie bei ganz unzweifelhaft Geisteskranken häufig genug das Motiv irgend welcher bestimmter Handlungen absolut nicht aufzufinden ist, wie sie scheinbar gar nicht in irgend welchem Zusammenhange mit der bestehenden psychischen Alienation stehen, und es ist ein besonders interessantes Studium, von den Reconvalescenten zu erfahren, in welcher Weise die anscheinend un-motivirtesten Handlungen sich psychologisch wohl motivirt entwickelt haben.

Man wird demnach von vorn eherein darauf verzichten müssen, in allen Fällen in foro die incriminirte Handlung in ihren Motiven aus der Geisteskrankheit entwickeln zu können. Aber der anscheinend mangelnde Connex, die mangelnde Durchsichtigkeit des psychischen Processes darf auf keinen Fall zu der Behauptung führen, dass zwar krankhafte Störung der Geistes-thätigkeit bestehe, dass aber die That selbst in keinem Zusammenhange mit der krankhaften Störung der Geistesthätigkeit stehe. Auf der anderen Seite wird man bei Geisteskranken ein anscheinend durchaus normales Motiv für eine bestimmte Handlung finden, die That selbst in durchaus angemessener Weise ausgeführt sehen, so dass weder das Motiv noch die Ausführung der Handlung den Kranken von dem gewöhnlichen Verbrecher unterscheidet, aber auch hier wird man nie ausschliessen können, dass bei der vorhandenen krankhaften Störung der Geistesthätigkeit nicht auch krankhafte Vorstellungen mitgewirkt oder durch die Krankheit gestörte oder abgeschwächte ethische Begriffe die That haben geschehen lassen, welche jene unter normalen Verhältnissen verhindert haben würden. Man hat eine Reihe von Momenten angeführt, nach denen aus der Handlung selbst die geistige Krankheit erschlossen werden könnte.

Der grösste Theil derselben hat nur einen sehr untergeordneten Werth. Es gehören hierher:

1. Das Motiv der That (Causa facinoris). In einer grossen Reihe von Fällen ist bei Geisteskranken sehr wohl ein Motiv, die Befriedigung irgend eines egoistischen Triebes, vorhanden, während auf der anderen Seite auch bei Verbrechern, wie die Criminalisten wissen, zuweilen ein Motiv sehr schwer oder gar nicht zu entdecken ist, zuweilen erst lange nach der Verurtheilung, während der Haft klar wird. Der ärztliche Sachverständige hat umsomehr Veranlassung, nach dieser Richtung hin vorsichtig zu sein, als bei dem Vergleich zwischen Motiven bei den Handlungen der Verbrecher und der Geisteskranken nur die letzteren in das Gebiet seiner Sachverständigkeit gehören, während über erstere der Criminalist besser unterrichtet ist.

2. Ob die That isolirt im Leben des Thäters stand, ob man sich der That von ihm versehen konnte? (Leumundsfrage.) Ein böser Mensch kann ebenso leicht geisteskrank werden wie ein guter; auf der anderen Seite sehen wir oft genug, dass nach einer langen schuldfreien Laufbahn jemand zum Verbrecher wird.

3. Die Prämeditation ist bei Geisteskranken durchaus nicht ausgeschlossen; wir finden sie in der Regel sehr ausgebildet bei der Paranoia. Auf der anderen Seite lassen sich auch Gesunde zu nicht prämeditirten Handlungen in einem Affecte hinreissen, den man nicht als eine krankhafte Störung der Geistesthätigkeit betrachten kann.

4. Das Verhalten während und nach der That kann bei Geisteskranken (speciell den Paranoikern) vollständig allen äusseren Umständen Rechnung tragen, kann von grosser Schlauheit, Vorbereitung der Flucht nach der That u. s. w. zeigen. Auf der anderen Seite zeigen Verbrecher, dass sie bei dem grössten Raffinement doch irgend eine Dummheit bei der Ausführung des Verbrechens begehen, welche zu ihrer Entdeckung und Ueberführung der Thäterschaft Veranlassung wird.

5. Das Bewusstsein der Strafbarkeit involvirt durchaus nicht die normale Geistesthätigkeit; wir haben bereits oben gesehen, dass eine Reihe von Geisteskranken ihre Verbrechen im vollen Bewusstsein der Folgen derselben begehen.

6. Ebensowenig beweist das Vorhandensein der Reue etwas gegen die krankhafte Störung der Geistesthätigkeit. Der Kranke kann die That sehr wohl bereuen, weil sie im Zustande augenblicklich gesteigerter Angst u. s. w. geschah, oder weil ihm die Folgen der Handlung, Einsperrung in ein Ge-fängniss oder in eine Irrenanstalt, unangenehm sind. Die Melancholischen bereuen meist alles, was sie gethan haben; Selbstanklagen in Bezug auf ihre Verworfenheit bilden einen Hauptinhalt ihrer Delirien. Auf der anderen Seite haben auch viele Verbrecher keine Reue.

7. Von grosser Wichtigkeit ist es dagegen, ob der Angeschuldigte eine Erinnerung an die Handlung hat. Der Nachweis der Amnesie ist von der allergrössten Bedeutung. Es bedarf allerdings der genauesten Kenntniss der Zustände von Bewusstlosigkeit, um sich hier vor Simulation zu schützen. Auf der anderen Seite haben neuere Erfahrungen gelehrt, dass auch die theilweise oder beinahe vollständig vorhandene Erinnerung nicht beweisend ist gegen die Annahme eines epileptischen Anfalles, der ja bei den Zuständen von Bewusstlosigkeit vorzugsweise in Frage kommt.

Es bleibt noch übrig, die Frage in Bezug auf Simulation (cf. auch diesen Artikel) von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit hier zu eruiren. Die Simulation von Geistesstörung bei Verbrechern spielt eine viel grössere Rolle in der Annahme der Staatsanwälte und Richter, wie einzelner Gefängnissärzte und gerichtlicher Physici, als in der Wirklichkeit.

Man sollte doch bedenken, wie schwer es Schauspielern, die ein besonderes Studium darauf verwenden, Geisteskranke darzustellen, gelingt, dies naturgetreu auszuführen, und man wird es von vornherein als zweifelhaft betrachten müssen, ob in der That die Simulation einer krankhaften Störung der Geistesthätigkeit von Leuten, die kein besonderes Studium darauf verwenden konnten, die in der Mehrzahl der Fälle zudem aus den ungebildeten Classen stammen, irgendwie längere Zeit und consequent durchzuführen ist. Die Fälle, in denen vorübergehend ein gesunder Verbrecher einmal einen Tobsuchtsanfall, ein anderer Stummheit, apathischen Blödsinn ein oder mehrere Tage simulirt, kommen selbstverständlich hier nicht in Betracht. In derartigen Fällen giebt der Betreffende sehr bald seine Simulation auf, weil er nicht imstande ist, sie durchzuführen. Derartige Fälle kommen daher kaum zur Cognition in foro.

Wie selten Fälle von wirklicher Simulation sind, ergiebt sich aus der Mittheilung von Vingtrinier (Annal. d'hyg. publique. Janv. 1853), dem unter 43. 000 Angeschuldigten, die in Rouen in 54 Jahren im Gefängniss, beziehungsweise vor Gericht sich befanden, nur ein Fall von zweifelloser Simulation
einer Geisteskrankheit vorgekommen ist, wirklich Irre aber 265. Erfahrene Psychiater haben in langer ausgedehnter Thätigkeit nie geistig intacte Simulanten gesehen. Oefter lassen sich gerichtliche Aerzte dadurch zu der Annahme der Simulation verleiten, dass der Nachweis geliefert wird, dass einzelne Symptome in der That von den Betreffenden simulirt worden sind. Nun ist es aber eine bekannte Erfahrung, dass viele Geisteskranke simuliren, dass bei einer Form von psychischer Störung, den hysterischen Psychosen, die Sucht zu simuliren geradezu als ein Symptom der krankhaften Störung der Geistesthätigkeit betrachtet werden muss. Der Nachweis der Simulation einzelner Symptome schliesst demnach nicht den Beweis in sich, dass eine krankhafte Störung der Geistesthätigkeit nicht vorhanden ist.

Auch das Eingeständniss, simulirt zu haben, ist durchaus noch kein absoluter Beweis für die Simulation. Eine Anzahl Geisteskranker dissimuliren hartnäckig, oft wochenlang, selbst monatelang, ihre Sinnestäuschungen, ihre Wahnvorstellungen (Melancholiker, Paranoiker), erklären, dass ihre früheren Angaben unrichtig gewesen sind, dissimuliren, um einen bestimmten Zweck, z. B. den aus der Irrenanstalt herauszukommen, zu erreichen. Man sieht nun, dass Geisteskranke, die ein Verbrechen begangen haben, häufig genug verlangen, dass man sie in das Gefängniss bringen soll, dass sie viel lieber eine zeitlich abgemessene Strafe erdulden wollen, als auf ganz unbestimmte Zeit oder zeitlebens in der Irrenanstalt eingesperrt zu werden. So erklärt sich in einzelnen Fällen das Geständniss der Simulation zu dem bestimmten Zweck, zwischen dem Uebel der Strafe und der dauernden Einsperrung in einer Anstalt das ihnen kleiner erscheinende zu tragen.

Weitere Beobachtung lässt allerdings dann die Dissimulation erkennen. Absolut zu verwerfen ist es, wenn Psychiater sich dazu hergeben, durch allerlei Manipulationen, Douche u. s. w. etwa gar ein Geständniss der Simulanten erpressen zu wollen.

Der Beweis einer Simulation wird da, wo chronisch verlaufende Störungen der Geistesthätigkeit simulirt werden, nur dann als erbracht angesehen werden können, wenn intercurrent Zustände bei dem zu Untersuchenden auftreten, in denen sachverständige Beobachtung durchaus keine Symptome von einer Geisteskrankheit entdeckt, während die Erfährung lehrt, dass solche absolut freie Intermissionen, z. B. bei der angeblich häufig simulirten Dementia, nicht vorkommen und nicht vorkommen können. Schwieriger gestaltet sich die Sache, wenn der Betreffende behauptet, von der That nichts zu wissen, nur die Möglichkeit zugiebt, sie im bewusstlosen Zustand verübt zu haben. Hier kann ja der Betreffende zur Zeit der Untersuchung normal sein. Die Simulation wird hier durch vielfache Kreuzfragen, in denen dann Widersprüche hervortreten, indem einzelne dem Thäter unwesentlich erscheinende gewusst, für andere als wesentlich von ihm betrachtete angeblich keine Erinnerung besteht, entdeckt werden können. Die genaueste Kenntniss des Eintritts, des Verlaufs und des Ablaufs der epileptoiden Zustände wird hier für den Sachverständigen erforderlich sein. Dadurch, dass derartige epileptoide Zustände nicht isolirt, nicht einmal im Leben auftreten, wird die Anamnese, wie die Beobachtung in einer Irrenanstalt die Schwierigkeiten erheblich mindern, meist beseitigen.

Es erübrigt endlich, eine Frage hier noch zu erwähnen, welche besonders Solbrig aufgeworfen hat, ob es nämlich Zustände giebt, in denen man nicht die Frage, ob »Wahnsinn oder Verbrechen«, sondern die, ob »Wahnsinn und Verbrechen« vorhanden sei, zu beantworten hat. Unzweifelhaft werden eine Anzahl verbrecherischer Naturen, die bis dahin als geistesgesund zu betrachten waren, in der Freiheit oder während der Haft geisteskrank; es ist dann der Verbrecher ein »Wahnsinniger« geworden. Für die forensische Beurtheilung ist dies jedoch durchaus irrelevant; ist einmal die Geisteskrankheit nachgewiesen, dann kann weder von einem Verbrechen die Rede sein (»eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter zur Zeit der Begehung der Handlung u. s. w.« § 51), noch auch von einem Strafvollzug; denn an Geisteskranken kann der Bedeutung der Strafe nach eine Strafe nicht vollzogen werden. Für die forensische Begutachtung kann nur die Frage sein: »Wahnsinn« oder »Verbrechen«, nie wird es sich um eine Combination beider handeln.


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