Wahnsinn

Heilkundelexikon

Wahnsinn

Wahnsinn (Vesania, Insania, Vecordia, ?Monomanie, Paranoia, Anoesia) ?bezeichnet nach Jahrhunderte altem Sprachgebrauch eine krank hafte Störung der Geistesthätigkeit im allgemeinen. Das Wort wird so wohl im Volksmunde als bei Gelehrten promiscue mit »Tollheit«, »Narr heit«, »Wahnwitz«, »Unsinn«, später »Verrücktheit« gebraucht. ?In den unendlich mannigfachen Formen des Irreseins bestimmte, sich häufig wiederholende Symptomencomplexe zusammenzufassen und zu benennen, war von jeher das Bestreben der Forscher. Philosophen, Anatomen und Kliniker betheiligten sich an den Bemühungen; naturgemäss waren die Gesichtspunkte, von denen aus sie zu classificiren suchten, sehr verschiedene:

rein philosophische, psychologische, ätiologische, symptomatische und ana tomische. Der letztere, nach Analogie der Eintheilung der »somatischen« Krankheiten am meisten berechtigte und correcteste Standpunkt lässt
bei der trotz aller Fortschritte noch sehr gering entwickelten pathologischen Anatomie des Hirnes ?in den meisten Fällen im Stiche, und so kommt es, dass die psychologisch-symptomatische Classification der Seelen störungen von Hippokrates an bis in die neueste Zeit die grösste Rolle gespielt hat. Ihr entspringt die Bezeichnung »Wahnsinn« als einer speciellen Form von Psychose, nämlich derjenigen, welcher die Wahnvorstellungen ihr charakteristisches Gepräge geben. Dies war die Auffassung, wie sie ungefähr vom Ende des vorigen Jahrhunderts an herrschte, die Ansichten der einzelnen Autoren differirten wieder weit von einander: Langermann (1800) und Ideler (1838) verbinden noch mit dem Worte »Wahnsinn« den Begriff Seelenkrankheit überhaupt. Ideler theilt ein in idiopathischen Wahnsinn, der aus der Leidenschaft hervorgegangen, und sym pathischen Wahnsinn, d. i. eine Störung, »die aus einem Missverhältniss zwischen geistigen und körperlichen Kräften herstammt, in welcher die letztteren das bestimmende Moment abgeben«. Neben dieser ätiologischen Classificirung war seine klinische Eintheilung: Melancholie, Tobsucht und Monomanie. Die Auffassung der letzteren kommt der des späteren Wahnsinns nane.

Heinroth (1839) nannte die geistige Unfreiheit überhaupt »Vesania«. Deren Unterabtheilungen waren bei ihm: Melancholie, Manie, Verrücktheit und »Wahnsinn« (»ecstasis paranoica«, »insomnium vigil«), d. i. derjenige gebundene Zustand, »wo der Mensch wachend in einer Traumwelt lebt, welche bei ihm die Sinnenwelt vertritt. Die Phantasie verdrängt durch ihre Wahngebilde den Sinn«.

Reil (1818) fasste unter dem Begriff »fixer Wahn« das zusammen, was wir heute mit Verrücktheit, Melan cholie, Hypochondrie und
Zwangsvorstellungen bezeichnen und stellte dem gegenüber die »Tobsucht«, »Narrheit« und den »Blödsinn«. ?Der Wahnsinn im Sinne Jacobi's (1844) umfasst ebenfalls viele Fälle von Melancholie, und zwar solche mit hervorstechenden Wahnideen. ?Einige begriffen unter Wahnsinn Manie und Tobsucht, und stellten ihm gegenüber die Melancholie (Bird 1834), andere nahmen Tobsucht und Wahnsinn als nahe verwandt an und fassten die erstere als eine Steigerung der letzteren auf (Domrich 1846).

Die Monomanielehre Esquirol's (s. d. Art.), der sich einige Deutsche streng anschlössen (Schnitzer 1846), half die verwirrende Lehre von der »fixen Idee« schaffen. Leupoldt (1837) unterschied den »vagen Wahn« und den »fixen Wabn« (Monomanie); Flemming (1846) den »par tiellen Wahnsinn«, d. i. »Delirien in einzelnen Richtungen der Verstandes- thätigkeit« (fixe Ideen) und den »verbreiteten Wahnsinn«, d. i. »Delirien in allen Richtungen der Verstandesthätigkeit«.

Bei der chaotischen Verwirrung, die ?nach Vorstehendem ?unter den Autoren bezüglich der Nomenclatur herrschte, lässt sich nur das Ge meinsame finden, dass man bis zu Griesinger's Zeit unter Wahnsinn psychische Erregungszustände verstand (gleichviel ob exaltirter oder depressiver Natur), die mit anhaltenden lebhaften Wahnideen auf treten. Erst seit dem Erscheinen der bahnbrechenden »Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten« von Griesinger (1845) nahm die Definition des Begriffes »Wahnsinn« schärfere Contouren an. Nach Griesinger gehört diese Form von Psychosen ?neben Manie und Tobsucht ?zu den psychischen Exaltationszuständen. Nach einem melancholischen oder maniakalischen Vorstadium entwickelt sich die Krankheit mit dauernd hochgradig gesteigertem Selbstgefühl, das häufig in maasslose Selbstüber schätzung ausartet. ?Die meistens gehobene Stimmung geht einher mit Grössenwahnideen, die, auf Hallucinationen oder Illusionen beruhend, oft von der expansivsten Natur sind und keine Grenzen kennen (Millionäre, Könige, Kaiser, Weltenbesitzer, Götter, Obergötter). Trotz der vorhandenen Steige rung der Schnelligkeit des Vorstellens und des Gedankenablaufs, trotz des reichlich zu Gebote stehenden Redeflusses, fehlen den Kranken zuweilen die Worte, ihre Titel und Würden zu bezeichnen, das Wohlgefühl, die Wonne auszudrücken, die sie empfinden. Gesteigerte Muskelaction und schwere Er müdbarkeit begleitet die allgemeine Exaltation Die Wahnvorstellungen werden sehr bald in ein sorgfältiges System (»fixe Idee«) gebracht, das die Kranken zuweilen mit grosser dialectischer Schärfe zu vertheidigen wissen, es mischen sich Verfolgungsideen hinein, welche mit den Grössenideen in engem Connex stehen. Vterhältnissmässige Intelligenz und ungeschmälerte Logik kann Jahre lang fortbestehen. ?Nach Griesinger kann diese Störung in Genesung übergehen (plötzlich oder allmählich), oder sie wird unheilbar und endet in »Verrücktheit« (später in Verwirrtheit), in »Blödsinn« oder »Paralyse«.

Die hervorstechendsten Züge in dem ganzen Krankheits bilde ?wie es zwei Jahrzehnte von der deutschen Psychiatrie acceptirt war ?sind: Secundäre Entstehung, Exaltation, anhaltende Selbstüberschätzung mit systematisirten Wahnideen (Unterschied von Manie!) und verhältnissmässig geringe Verminderung der Gesammtintelligenz. (Unterschied von partieller Verrücktheit und Ver wirrtheit, die bereits Schwächezustände sind!)

Die Fälle, mit denen Griesinger die Beschreibung seines Wahnsinns illustrirt, fallen nach heutigen Begriffen theils unter hallucinatorische (pri märe) Paranoia, theils unter Dementia paralytica. Die letztere Krankheits form (zuerst von Bayle als solche erkannt 1822, aber erst alimählich zur Geltung gelangend) beschreibt Griesinger in den späteren Auflagen seines Lehrbuches unter »Complicationen der Geistesstörung«. Er unterschied also in den Anfangsstadien nicht Wahnsinn und Paralyse, nahm vielmehr an, der erstere könne in letztere übergehen. ?Neben dieser, unserer heutigen Auffassung widersprechenden Annahme war der Hauptirrthum Griesinger's und seiner Anhänger, dass sie den Wahnsinn für einen secundären Zustand, aus Melancholie oder Manie hervorgegangen, hielten. Mit grosser Absichtlichkeit wird dies z. B. in den Lehrbüchern von Spielmann (1855) und Leidesdorf (1860) betont: Die primären Störungen müssten »die alte Persönlichkeit erst zersetzen«, bevor es zur Bildung einer neuen komme. Wenn einmal die Anamnese ein widersprechendes Resultat ergab, dachte man sich, sie sei lückenhaft gewesen, und mit gutem Willen Hess sich immer eine leichte initiale Depression oder Exaltation herausexaminiren. Die französischen Psychiater jener Zeit waren in jenem Irrthum nicht befangen; die von ihnen (Esquirol u. a.) beschriebenen Monomanie d'ambition, d: orgueil, de vanite, die unter jenen Begriff des Wahnsinns fallen, konnten auch als Anfangsstadien bestehen.

Griesinger selbst drückte sich in seinem Lehrbuche etwas zweifelhaft aus und hat später (1866) seine früheren Ansichten ausdrücklich corrigirt dahin, dass die für immer secundär gehaltenen Zustände auch als »pri märe Verrücktheit« auftreten können. ?Damerow hat (1853) in seinem Sefeloge, einer Wahnsinnsstudie, abgesehen von allem schwülstigen Beiwerk, eine vorzügliche Schilderung der jetzt sogenannten originären Ver rücktheit hinterlassen, doch unterscheidet er in der Nomenclatur nicht scharf, spricht von »wahnsinniger Verrücktheit«, von »durch partiell erscheinendem Wahnsinn sich entwickelnder allgemeiner Verdrehtheit«. ?Ein Jahr früher als Griesinger hatte Snell seine Ansicht von der primären Entstehung des Wahnsinns (»oder Monomanie«) aufgestellt und durch eine Reihe von sorgfältig beobachteten Krankheitsfällen den evidenten Beweis für seine Be hauptung geliefert. Eine Ergänzung und Ausbauung fanden seine Ausfüh rungen durch Wahnsinn Sander (1868) und Westphal (1878), durch welche die Krank heitsformen der originären und primären Verrücktheit (s. Paranoia) consolidirt wurden, das sind diejenigen Krankheitsformen, unter welche die meisten der von den früheren Autoren als »Wahnsinn« beschriebenen Geistesstörungen fallen. ?Ueber das primäre Ent stehen dieser Art von Psychosen herrscht heutzutage wohl kaum ein Zweifel nur über die Benennung »Wahnsinn« oder »Verrücktheit« sind die Ansichten noch getheilt. ?Von Schäfer (1879) wird die Beibehaltung des alten Aus druckes warm vertheidigt. Schule gebraucht »Wahnsinn« für die secundäre Form (Schwächezustand), während er daneben die »primäre Verrücktheit« anerkennt. Ebenso Arndt, v. Krafft-Ebing kennt nur die Form des hallucina- torischen Wahnsinns und beschreibt hierzu Fälle, welche als primäre Paranoia, als Delirium hallucinatorium, Delusionalstupor von anderen bezeichnet werden wie er selbst anerkennt. Seine Auffassung weicht im übrigen wieder weit ab von derjenigen der meisten Autoren, welche den »Wahnsinn« anerkennen. Dies zeigt sich schon darin, dass bei ihm der »Wahnsinn über 70% Heilungen aufweist, während der Vertreter der alten Schule in Bezug auf »Wahnsinn«, Hertz, nur etwa 16%Heilungen annahm.

Mit Rücksicht auf die unendliche Confusion, die vor Griesinger in Bezug auf die Bezeichnung »Wahnsinn« herrschte, mit Rücksicht ferner darauf, dass das Symptomenbild, welches Griesinger unter Wahnsinn sum- mirte, de facto heute als berechtigte Krankheitsform nicht mehr besteht, mit Rücksicht endlich darauf, dass auch jetzt unter »Wahnsinn« jeder Psychiater etwas anderes versteht, dürfte es sich empfehlen, den alten Aus druck ?trotz seiner historischen Ehrwürdigkeit ?ganz fallen zu lassen. In Bezug auf eine genauere klinische Erörterung der Fälle, welche man als »Wahnsinn« beschrieben hat, betreffs Aetiologie, pathologische Ana tomie, Prognose und Therapie muss auf die Artikel Del. hallucinat., Para noia verwiesen werden. Hierhin gehören auch die in der Literatur vorkom menden Bezeichnungen: Verfolgungswahn sinn der Trinker (Nasse), Quaerulantenwahnsinn, Religiöser Wahnsinn, Erotischer Wahn sinn etc.

Säuferwahnsinn s. Delirium tremens.

Literatur: Reil, Fieberlehre. Halle 1799. ?Reil, Rhapsodien der psych. Cur- methoden. Halle 1818. ?Heinroth, Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens. Leipzig 1818. ?Idelee, Der Wahnsinn in seiner psycholog. und soc. Bedeutung. Bremen 1848. ? Esquirol, Die Geisteskrankheiten, übers, von Bernhard. Berlin 1838. ?Leupoldt, Grund- nss der allg. Path. u. Therapie etc. Halle 1823. ?Weiss, Beiträge zur Beurtheilung etc. der psych. Krankheiten. ?Flemming, Ueber die Classification der Seelenstörungen. Allg. Zeitschr. f. Psych. I, pag. 97. ?Jacobi, JACoBi-NAssE'sche Zeitschr. ?Damerow, Sefeloge, eine Wahnsinnsstudie. Halle 1853. ?Griesinger, Ges. Abhandlungen I, pag 135. ?Snell, Allgem. Zeitschr. f. Psych. XIX, pag. 168. ?Wahnsinn Sander, Arch. f. Psych. I, pag. 387. ? Westphal, Allgem. Zeitschr. f. Psych. 34, pag. 252. ?Schäfer, Allgem. Zeitschr. f. Psych. Ö7, pag. 55. ?Nasse, Allgem. Zeitschr. f. Psych. 34, pag. 167. ?Hertz, Wahnsinn, Ver- wirrtheit, Paranoia. Allgem. Zeitschr. f. Psych. 52, pag. 701. ?Lehrbücher von: Spiel mann, Leidesdorp, Griesinger, Schule, v. Krafpt-Ebing, Emminhaus, Arndt, Kraepelin. Wahnsinn (forensisch). »Rasende und Wahnsinnige« (im Gegen satz zu Blödsinnigen, s. diesen Artikel) heissen diejenigen, welche des Ge brauchs ihrer Vernunft gänzlich beraubt sind. (Allg. Landrecht. Theil I, Titel 1, §27.) Mit der Einführung des bürgerlichen Gesetzbuches in Deutschland am 1. Januar 1900 hat der Wahnsinn seine forensische Bedeutung verloren, da jenes Gesetzbuch den Wahnsinn als eine besondere Form von Geisteskrankheit aus dem allgemeinen Landrecht nicht übernommen hat.

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