Zurechnungsfähigkeit: Ärztliche Aufgabe

Heilkundelexikon

Zurechnungsfähigkeit: Ärztliche Aufgabe


Aufgabe der Aerzte in foro. Aus den angeführten gesetzlichen Bestimmungen des Strafrechtes wie aus denen der Strafprocessordnung in den verschiedenen Ländern ergiebt sich, dass fast überall jetzt die Richter genöthigt sind, sobald die geistige Gesundheit des Angeklagten zweifelhaft ist, den Arzt als Sachverständigen zuzuziehen. In den meisten Culturländern geschieht dies von Staatswegen; vom Staatsanwalt oder vom Gerichtshofe werden die Sachverständigen in erster Reihe berufen, nur in England bleibt es, abgesehen von den Fällen zweifelhafter Verhandlungsfähigkeit, der Verteidigung überlassen, die ärztlichen Sachverständigen den Gerichtshöfen zuzuführen.

(Cf. Türe, Journal of mental science. 1882, 27, pag. 35, der in einer interessanten Abhandlung die Schäden des jetzigen Verfahrens in England bei zweifelhafter Zurechnungsfähigkeit beleuchtet.)

In schwierigen Fällen wird dem Arzte durch die Bestimmung des § 81 der deutschen Strafprocessordnung, wonach der Angeschuldigte auf die Dauer von höchstens 6 Wochen in eine öffentliche Irrenanstalt zur Beobachtung gebracht werden kann, die Untersuchung wesentlich erleichtert.

Die Aufgabe des ärztlichen Sachverständigen ist nicht die, die Zurechnungsfähigkeit oder Zurechnungsunfähigkeit festzustellen ? dies gehört allein und ausschliesslich zur Competenz des Richters ? sondern die Frage zu beantworten, ob der Angeschuldigte zur Zeit der Begehung der Handlung geistesgesund oder geisteskrank war. Die Frage der Zurechnungsfähigkeit ist eine rein strafrechtliche; die Gesetzgebung des Staates allein hat das Recht, zu bestimmen, inwieweit die mit Strafe bedrohten Handlungen dem Thäter zugerechnet werden sollen oder nicht; der Richter hat jene Bestimmungen im concreten Falle anzuwenden. Der Arzt ist nur ein Nothbehelf, er wird zugezogen, um gewisse Voraussetzungen, die bei der Frage der Zurechnungsfähigkeit in Betracht kommen, dem Richter wissenschaftlich zu erläutern. Der Richter kann diese wissenschaftliche Feststellung seinem Urtheil zugrunde legen, aber er ist dazu in Bezug auf das ärztliche Gutachten ebensowenig verpflichtet, wie in Bezug auf die Urtheile anderer Techniker, die er in anderen Fragen zurathe zieht. Es verräth eine vollständige Verkennung des Rechtes des Staats, der Stellang der Richter, wie des Berufes der Sachverständigen, wenn von ärztlicher Seite (cf. den Bericht über die Ausschusssitzung des deutschen Aerztevereinsbundes vom 5. März1875) verlangt wird, dass den Aussprüchen der Sachverständigen eine vis rei judicatae beigelegt werden soll.

Abgesehen von den principiellen Einwänden gegen eine solche Auffassung braucht dagegen nur angeführt zu werden, wie häufig sich in foro die ärztlichen Gutachten widersprechen, und dass man doch dann, um die Entscheidung herbeizuführen, nicht etwa, wie bei den Geschworenen oder einem Richtercollegium, die Majorität wird entscheiden lassen wollen.

Wenn wir somit dem ärztlichen Gutachten eine von vorneherein entscheidende Bedeutung: nicht zuerkennen, so ist es doch auf der anderen Seite nicht zweifelhaft, von welch bedeutendem Werth dasselbe sein wird, wenn es eine überzeugende Kraft in sich trägt. Nicht aber blos auf den Richter im concreten Fall, sondern auch auf die Gesetzgebung, die den Begriff der JZurechnungsfähigkeit im Strafgesetz definirt, wird die Psychiatrie ihren Ein-fluss nicht verfehlen und die gegenüber früheren Bestimmungen glücklichere, wenn auch durchaus nicht einwandsfreie Fassung des § 51 des deutschen Strafgesetzbuches ist zum erheblichen Theil den Bemühungen deutscher Psychiater zu danken.


Die Beantwortung der Frage, ob ein Angeschuldigter zur Zeit der Begehung der Handlung bewusstlos gewesen oder ob er an einer krankhaften Störung der Geistesthätigkeit gelitten, wird vorerst die Aufnahme einer genauen Anamnese über das ganze Vorleben des Betreffenden voranzugehen haben. Die hereditäre Veranlagung, der körperliche und geistige Entwicklungsgang des Individuums ist sorgfältig aufzunehmen und im Anschluss daran eine genaue körperliche Untersuchung, die sich auf alle Organe erstrecken muss, anzustellen. Besonders ist dabei auch auf Deformitäten, z. B. des Schädels, der Ohren, der Zähne u. s. w. zu achten.

Diese Untersuchung geschieht im übrigen nach allgemeinen ärztlichen Grundsätzen; Anhaltspunkte geben für einzelnes Specielle die Artikel dieses Werkes über Deformitäten, Erblichkeit, Psychosen im allgemeinen, Idiotismus, Moral insanity, Schädel u. s. w. Von besonderer Wichtigkeit wird in der Anamnese die Beantwortung der Frage sein, ob der Angeschuldigte an epileptischen oder epileptoiden Zuständen gelitten, ferner ob er Alkoholist war oder anderweitigen Intoxicationen sich hingab, in welcher Beziehung die Artikel Epilepsie und Alkoholismus, sowie Delirium tremens zu vergleichen sind. An dieser Stelle soll nur noch die hereditäre Anlage zu Nerven- und Geisteskrankheiten etwas näher erörtert werden.

Der Begriff der erblichen Anlage ist bei der Frage der Geisteskrankheit im weiteren Sinne aufzufassen.

Als erbliche Anlage ist es zu bezeichnen, wenn in der Ascendenz Geisteskrankheiten oder anderweitige schwere Krankheiten des Centralnervensystems, z. B. Epilepsie, vorgekommen sind. Es kann dabei sehr wohl eine Generation übersprungen werden, der Grossvater, respective die Grossmutter geisteskrank gewesen sein, während die Eltern nichts Auffallendes zeigten, die hereditäre Anlage bleibt hier latent. Die Erblichkeit wird als eine collaterale bezeichnet, wenn bei Onkel oder Tante, Cousin oder Cousine Geisteskrankheit vorhanden war. Die Bedeutung dieser Art von Heredität damit abfertigen zu wollen, dass wohl die meisten einen Vetter oder irgend einen anderen Blutsverwandten haben, mit dem es »nicht richtig« sei, verräth eine mangelnde Kenntniss der einschlägigen Thatsachen. Ich habe im Laufe der letzten Jahre etwa 500 Menschen aus den ärmeren Volksclassen, die nicht geisteskrank waren, und die zum Theil gesund, zum Theil wegen einer inneren Krankheit poliklinisch behandelt oder in einem Krankenhause aufgenommen wurden, auf erbliche Anlage in jenem Sinn examinirt; nur in 8% liess sich diese Anlage nachweisen, während die Zahlen aus den öffentlichen Irrenanstalten bei gleichem Material der Beobachtung trotz mangelhafter Angaben in jenen Volksclassen etwa 30?40% ergeben. Eine erbliche Anlage zu Geisteskrankheiten kann ferner vorhanden sein, wenn in der Ascendenz Einflüsse sich geltend machen, welche erfahrungs-gemäss zu einer Degeneration der Race führen. Dazu gehört vor allem häufiges Heiraten unter Blutsverwandten, mangelnde Kreuzung und Alkoholismus der Eltern. Der erblichen Anlage gleichgesetzt wird die Erzeugung im Rausch.

Ist die Vererbung cumulativ, kommt sie von Seiten beider Eltern, so kommen die äussersten Grade psychischer und physischer Entartung zustande, die schliesslich das Aussterben der Familie bedingen.

Es ist selbstverständlich, dass der Nachweis der erblichen Anlage zu einer Geisteskrankheit nicht den Nachweis in sich schliesst, dass der Angeschuldigte geisteskrank ist. Wir wissen, wie häufig gerade aus solchen Familien im Gegentheil neben psychisch Alienirten geistig besonders begabte, hervorragende Menschen stammen; es kann der Nachweis der erblichen Anlage nur einen Fingerzeig, ein Moment für die Klarlegung der Entwicklung des in Frage stehenden Krankheitsfalles bieten.


Aber noch in anderer Beziehung verdient die erbliche Anlage eine Betrachtung nach der forensischen Seite hin. Wir wissen, dass eine sehr grosse Zahl jener Menschen, die aus erblich erheblich belasteten Familien stammen, nicht geisteskrank werden, ihr ganzes Leben hindurch weder Zustände von Bewusstlosigkeit noch krankhafter Störung der Geistesthätigkeit zeigen, dass ein Theil derselben aber reizbarer, störbarer in ihrem Fühlen, leichter geneigt ist, augenblicklichen Impulsen in ihren Handlungen zu folgen' weniger dabei unterworfen ist Jenen hemmenden Gegenvorstellungen, die unsere Handlungen zu überlegten, bedachten machen, dass ihr ganzer Lebenslauf, ihre ganze Art und Weise, sich im Leben zu benehmen und zu bewegen, von dem abweicht, was wir gewöhnlich bei normalen Menschen finden. Diese Menschen sind nicht selten eine Crux für ihre Familie, sie schwanken beständig wie auf einer Balancirstange, zwischen »gut« und »schlecht«, ohne jedoch ihren Schwerpunkt so tief zu senken, dass sie vollständig nach der letzteren Seite umschlagen. Man kann sie nicht geisteskrank nennen, und doch erscheinen sie, wenn man ihr ganzes Leben überblickt, auch nicht geistig normal. Wir bezeichnen diese eigenthümliche Anlage, die Folge einer »organischen Belastung«, als Diathesis s. Neurosis spasmodica, als »reizbare Schwäche«.

Derartige Naturen zeigen auch in Bezug auf gewisse körperliche und geistige Genüsse ein besonderes Verhalten. Man findet nicht selten bei ihnen z. B. eine ganz auffallende Reaction gegen Alkoholgenuss. Kleine Mengen desselben genügen zuweilen hier, um die höchsten Grade der Alkoholvergiftung, tobsüchtige Erregung u. s. w. hervorzurufen; eine Thatsache, die in foro von Belang sein kann, wenn die Frage zur Entscheidung vorliegt, ob die festgestellte Menge des genossenen Alkohols wohl genüge, um eine »sinnlose« Trunkenheit hervorzurufen. Eine für andere unbedeutende Menge reicht hier zuweilen aus, um krankhafte Störung oder Bewusstlosigkeit hervorzubringen. Jene Menschen, bei denen eine solche eigenthümliche Anlage, eine solche angeborene Schwäche nachgewiesen werden kann, werden nicht als Menschen mit krankhafter Störung der Geistesthätigkeit im Sinne des Gesetzes bezeichnet; eine ausgesprochene Geisteskrankheit lässt sich bei ihnen nicht nachweisen, wohl aber wird es Pflicht des Sachverständigen sein, im concreten Fall dem Richter die eben angedeuteten Thatsachen an die Hand zu geben, damit er bei der Beurtheilung der incriminirten Handlung sowohl das häufig ganz enorme Missverhältniss zwischen dem unerheblichen Motiv und der Gewaltsamkeit der Handlung verstehe, und auf der anderen Seite den Grad der persönlichen Verschuldung bei dem Thäter abzuwägen imstande sei.

Diese eigenthümlichen, hereditär belasteten Naturen sind es auch zusammen mit ähnlichen Zuständen, welche durch schwere centrale Neurosen, wie z. B. die Epilepsie, Hysterie, durch Kopfverletzungen, durch chronische Vergiftungen, durch Alkohol, Morphium hervorgebracht werden, welche die Forderung der sogenannten verminderten Zurechnungsfähigkeit von psychiatrischer Seite haben erheben lassen. Dieselbe hatte bereits im preussi-schen allgemeinen Landrecht ihren Platz gefunden (Th. II, Tit. 20, § 18: Alles, was das Vermögen eines Menschen, mit Freiheit und Ueberlegung zu handeln, vermehrt oder vermindert, vermehrt oder vermindert auch den Grad der Strafbarkeit, und Th. I, Tit. 3, § 14: Der Grad der Zurechnung bei den unmittelbaren sowohl als den mittelbaren Folgen einer Handlung richtet sich nach dem Grade der Freiheit bei dem Handelnden). Dagegen hatte das preussische Obertribunal durch seine Erkenntnisse vom 4. April 1855 und 6. September 1861 festgestellt, dass Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit sich wechselseitig ausschliessen, dass ein Mischungsverhältniss beider Zustände und ein daraus hervorgehender gradueller Unterschied der
Zurechnungsfähigkeit undenkbar sind, daher von einer verminderten Zurechnungsfähigkeit nicht die Rede sein kann. Bayern (Art. 68), Württemberg (Art. 98), Sachsen, Thüringen hatten in ihren Strafgesetzbüchern die verminderte Zurechnungsfähigkeit und auch der Entwurf des Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund (1867) hatte in seinem § 47 die verminderte Zurechnungsfähigkeit aufgenommen. (»Befand sich der Thäter zur Zeit der That in einem Zustande, welcher die freie Willensbestimmung zwar nicht völlig ausschloss, aber dieselbe beeinträchtigte, so ist auf eine Strafe zu erkennen, welche nach den über die Strafe des Versuches aufgestellten Grundsätzen abzumessen ist.«) Ueber die Zweckmässigkeit oder Unzweckmässigkeit, diesen Paragraph in das Strafgesetzbuch aufzunehmen, hat sich seinerzeit eine sehr umfangreiche Literatur, von Juristen und Psychiatern ausgehend, entwickelt. Gegen eine Reihe von Stimmen, die dem Paragraph freundlich gesinnt waren, erhob sich eine Anzahl anderer, die ihn abzuweisen forderten. Die Juristen fürchteten, dass gefährliche Verbrecher als vermindert zurechnungsfähig, die Aerzte, dass wirklich Geisteskranke als vermindert zurechnungsfähig betrachtet werden würden.

Schliesslich wurde es aufgegeben, die verminderte Zurechnungsfähigkeit in das Strafgesetzbuch aufzunehmen (cf. meine Darstellung in der Zeitschrift für Psychiatrie, XLV, pag. 524). Dadurch allerdings, dass weitaus die grösste Zahl der strafrechtlich zu ahndenden Verbrechen oder Vergehen bei der Verurtheilung mildernde Umstände zulassen, ist die Möglichkeit vorhanden, die Begründung für die mildernden Umstände nicht blos in den äusseren Umständen, sondern auch in der Eigenthümlichkeit der geistigen Veranlagung des Thäters festzustellen. * Da, wo mildernde Umstände als nicht zulässig im Strafgesetz erachtet worden sind (Mord, Meineid u. s. w.), kann die Eventualfrage, ob etwa die Ueberlegung fehlte oder Fahrlässigkeit das Verbrechen hervorgebracht hat, dem individuellen Zustande des Thäters gerecht werden. Kann damit also eine verminderte Zurechnungsfähigkeit in der That, wenn auch indirect, ausgesprochen werden, so scheint auf der anderen Seite in den Fällen, die wir hier im Augen haben, die entscheidende Bedeutung gar nicht in der etwas grösseren oder geringeren Höhe des Strafmasses zu liegen, als vielmehr in dem Strafvollzug. Jene Individuen bedürfen, wenn sie nicht dauernd geschädigt werden sollen, eine mildere, ihrer krankhaften Anlage entsprechendere Art des Strafvollzuges, als der geistig und körperlich normale Verbrecher, und Aufgabe der Psychiater wird es sein, bei einem Gesetze über den Strafvollzug, das in Deutschland ja immer noch seiner Vollendung harrt, auf diese Verhältnisse aufmerksam zu machen. Schon jetzt wird ein richtiges Verständniss für die hierher gehörigen Fälle seitens der Gefängnissärzte manche Härte beseitigen und manchem Schaden vorbeugen können.
Vom praktischen Standpunkt erscheint es übrigens durchaus richtig und consequent, in foro die Frage: geisteskrank oder geistesgesund präcis beantworten zu lassen; das Mittelding von verminderter Zurechnungsfähigkeit würde nur die Verantwortlichkeit der Aerzte mindern, und gewiss würde sich hinter jenem nur zu gern Unkenntniss verbergen; es wird nur zu leicht dadurch genaue und gewissenhafte Untersuchung hintangehalten werden. So wenig geleugnet werden darf, dass es in der Natur scharfe Grenzen nicht giebt, dass überall Uebergänge, also auch zwischen Gesundheit und Krankheit vorbanden sind, so sicher bedarf auf der anderen Seite die Rechtspflege

* Der im deutschen Strafgesetzbuche sehr ausgedehnte Gebrauch, welcher von den mildernden Umständen gemacht worden ist, sollte nach der Ansicht der betreifenden Com-raission des norddeutschen Reichstages speciell auch der verminderten Zurechnungsfähigkeit Rechnung tragen.

bestimmter Antworten auf bestimmte Fragen. Bleibt ein Fall aber trotz aller Sachverständigkeit des Arztes zweifelhaft, lässt sich die Frage, ob krank oder gesund, nicht mit Sicherheit beantworten, so erscheint es weit zweck-mässiger, dies offen mit einem »Non liquet« zu erklären und dem Richter das Weitere zu überlassen, als durch Schaffung von Zwitterdingen schliesslich nur zur Verdunklung des ganzen Sachverhaltes beizutragen.


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