Zurechnungsfähigkeit: Bewußtlosigkeit

Heilkundelexikon

Zurechnungsfähigkeit: Bewußtlosigkeit


Nach der genauesten Erhebung der Anamnese, der Untersuchung des Körpers wie des Geistes des Angeschuldigten entsteht die Frage, ob die incriminirte Handlung in einem Zustande von Bewusstlosigkeit oder in einem Zustande von krankhafter Störung der Geistesthätigkeit, durch den seine freie Wiliensbestimmung ausgeschlossen war, begangen worden ist.

I. Zustand von Bewusstlosigkeit.

Unter Bewusstsein ist die Thatsache zu verstehen, dass in unserem Geiste sich gewisse Vorgänge abspielen. Diese Vorgänge als in uns sich abspielend zu erkennen, sie in gewisse Verbindung oder in einen Gegensatz zu der Aussenwelt zu bringen, ist die Thatsache des Selbstbewusstseins. In der Regel tritt unter physiologischen wie unter pathologischen Verhältnissen mit der Aufhebung des Bewusstseins gleichzeitig die volle oder beinahe volle Aufhebung der übrigen psychischen Thätigkeit ein: der Sinneswahrnehmung, der Vorstellung, der gewollten Bewegungen, und nur die in sub-corticalen Regionen vor sich gehenden Reflexbewegungen bleiben noch erhalten. So sehen wir im tiefen Schlaf, in der Ohnmacht, im Chloralschlaf, bei Druck auf das Hirn, bei apoplektischen Ergüssen u. s. w. einen Zustand eintreten, bei dem alle psychischen Functionen aufgehoben sind. Diese Zustände haben forensisch keine Bedeutung, da in ihnen jede Actionsfähigkeit aufgehoben ist, überhaupt also strafbare Handlungen nicht vorkommen, oder höchstens solche durch unglücklichen Zufall eintreten können (z. B. eine Mutter kann im Schlaf ihr Kind erdrücken). Dagegen können bei vorhandenem Bewusstsein, aber aufgehobenem Selbstbewusstsein Sinneswahrnehmungen, Vorstellungen, Gefühle und aus ihnen hervorgehend Handlungen auftreten. In diesen Zuständen finden Wahrnehmungen äusserer Objecte statt, dieselben werden zu Vorstellungen verarbeitet, und aus diesen entspringen dann Handlungen; gleichzeitig mischen sich in diese psychischen Vorgänge sehr häufig Halluzinationen und Illusionen. Fast immer, doch nicht ausnahmslos zeigt sich dabei, dass eine Erinnerung an die Ereignisse, die während des aufgehobenen Selbstbewusstseins stattfanden, nicht vorhanden ist (Amnesia totalis) oder dass sie nur eine summarische ist, wenn die Aufhebung des Selbstbewusstseins keine ganz vollständige war. Nicht um eine Aufhebung des Bewusstseins, sondern um eine Aufhebung des Selbstbewusstseins handelt es sich meist in dem Falle des § 51. *

Diese Zustände von Bewusstlosigkeit haben demnach einen acuten, transitorischen Charakter. Sie kommen nicht selten vorübergehend im Verlaufe einer Psychose vor; das forensische Gutachten wird dann auch den Nachweis dieser Psychose zu bringen haben, auf deren Boden jener Zustand entstanden. So kommen sie vor bei der Melancholie als plötzlich hochgradige Steigerung der Angst mit Verdunklung oder Aufhebung des Bewusstseins: Raptus melancholicus (cf. den Artikel Melancholie), bei der Manie im höchsten Grade des Furor. Sie können vorübergehend bei Paranoia, bei

* Den »Zustand der Bewusstlosigkeit« hatte man in den betreffenden Paragraphen neben krankhafter Störung der Geistesthätigkeit aufgenommen, um auch »Zustände von Trunkenheit, Schlaftrunkenheit, Nachtwandeln, hochgradigem Affect, Zorn, Angst, Furcht« berücksichtigen zu können (cf. Olshausen, Strafgesetzbuch, pag. 212), Zustände, welche zum Theil schwer oder gar nicht unter krankhafter Störung der Geistesthätigkeit sich sub-sumiren lassen.

acuter Dementia u. s. w. eintreten, worüber ebenfajjs die Artikel über die einzelnen Psychosen zu vergleichen sind.

Hier handelte es sich nur um diejenigen Fälle, in denen Bewusstlosig-keit bei vorher psychisch Gesunden eintritt, um Fälle, in denen zur Zeit der Untersuchung in der Regel ein normaler oder annähernd normaler Zustand vorhanden ist, der eventuell wieder durch Anfälle von Bewusstlosigkeit unterbrochen werden kann. Alle diejenigen Fälle, in denen ein Zustand von Bewusstlosigkeit intercurrent bei einer bestehenden Psychose auftritt, werden unter die später zu besprechende krankhafte Störung der Qeistesthätigkeit zu subsumiren sein.

Die hier zu erörternden Zustände von Bewusstlosigkeit treten unter folgenden Umständen auf:

1. Schlaftrunkenheit, Somnolentia. Bei plötzlicher Unterbrechung des Schlafes tritt bei manchen Personen, die durch Anlage oder vorüber gehend wirkende Momente (starke Ermüdung, Uebermass geistiger Getränke vor dem Schlafengehen, Hitze und Verunreinigung der Luft im Schlaf zimmer u. s. w.) dazu prädisponirt sind, ein Zustand ein, in dem die äusseren Sinne zwar sofort imstande sind, auf die Reize in der Umgebung zu reagiren, die Bewusstlosigkeit des Schlafes aber noch nicht oder noch nicht vollständig beseitigt ist, und somit die Sinnesbilder nicht zur normalen Perception gelangen können. Dieselben vermischen sich mit den Bildern des Traumes, führen zu verkehrten Urtheilen und Schlüssen und damit unter Umständen zu entsprechenden Handlungen. Der Zustand ähnelt demjenigen, in dem das Selbstbewusstsein durch Alkoholgenuss erheblich alterirt ist; daher auch der Name »Schlaftrunkenheit«.

Dieser Zustand dauert in der Regel nur eine oder wenige Minuten und löst sich, indem das erwachende Bewusstsein Sinnestäuschungen von Sinneswahrnehmungen objectiver Gegenstände, Träume von wirklich Vorhandenem zu unterscheiden versteht. In leichteren Fällen verspürt der Schlaftrunkene nur eine gewisse Verwunderung über das, was er Ungewöhnliches erfahren, in schwereren Fällen kann es bei einem im Traum bereits in heftige Erregung gesetzten Hirn durch entsprechende Hallucinationen oder unrichtig gedeutete Vorkommnisse in der Umgebung im Moment des Ueberganges des Schlafes in die Schlaftrunkenheit zu gewaltthätigen Handlungen kommen.

Im übrigen gehören derartige Fälle zu den grossen Seltenheiten, in der Regel erfolgt das Erwachen, ehe es zu jenen Handlungen kommt, oder im ersten Beginn der Ausführung. Eine grössere Reihe der Fälle, in denen ein Zustand von Somnolentia als Ursache der Bewusstlosigkeit angegeben wird, gehört unter die epiieptoiden Zustände.

2. Schlafwandeln, Somnambulismus (cf. diesen Artikel und Lethargie). Das Nachtwandeln unterscheidet sich von dem gewöhnlichen Traumzustand dadurch, dass der Uebergang in die motorische Sphäre, die Auslösung von Handlungen, die aus Hallucinationen und Vorstellungen her vorgehen, ungemein erleichtert ist. Auch infolge von Sinneseindrücken, die aus vorhandenen Objecten hervorgehen, entstehen, wenn auch seltener, ent sprechende Handlungen.

Meist geht der somnolente Zustand durch einen normalen Schlaf in den wachen Zustand über. Die Erinnerung an das im Anfalle Erlebte fehlt vollständig, doch kehrt im nächsten Anfall in einzelnen Fällen Fortführung der Reden und Handlungen wieder, so dass bei häufiger Wiederkehr der Anfälle der Kranke ein doppeltes Leben zu führen scheint (doppeltes Bewusstsein, Verdoppelung der Persönlichkeit). Mit der erweiterten Kenntniss der epileptischen und hystero-epileptischen Zustände in den letzten Decennien ist das Vorkommen von »Somnambulismus«
als einer speciellen Erkrankung ungemein selten geworden und auch die Beobachtungen früherer Zeit gehören zum grössten Theil unter die Kategorie jener Zustände, zum Theil sind sie acut auftretende Vorgänge auf dem Boden einer chronischen Psychose. Es dürfte wohl am zweckmassigsten sein, den Begriff des »Somnambulismus« aus der forensischen Psychiatrie ganz zu entfernen. Da, wo es sich in der That um Zustände von Bewusstlosigkeit handelt und nicht, wie in einer Anzahl von Fällen die als »Somnambulismus« in der Literatur aufgeführt werden, um vorgeschützte Bewusstlosigkeit, wird in der Regel die Einreihung unter anderweitige krankhafte Zustände des Centralnervensystems möglich sein.

Im Anschlüsse hieran sei nur noch bemerkt, dass auch Zustände von Hypnotismus von forensischer Bedeutung werden können (cf. Art. Hypno-tismus, Bd. XI, pag. 241). In diesen Fällen handelt es sich zum Theil um wirkliche Simulation, zum Theil um chronische pathologische Hirnzustände (besonders Hysterie).

3. Bewusstlosigkeit der Gebärenden. Die Einwirkung der heftigen Schmerzen bei der Geburt, des Blutverlustes, Gram und Kummer mit ihren schwächenden Einflüssen während der Schwangerschaft, bei unehelichen Geburten die Einwirkung von Scham und Angst vor der Zukunft können im Momente der Geburt und kurz nachher Zustände von vollständigem oder theilweisem Auf gehobensein des Bewusstseins herbeiführen. Der Gesetzgeber hat besonders auf den Gemüthszustand bei unehelichen Geburten Rücksicht genommen, indem der §217 des deutschen Strafgesetzbuches eine mildere Strafe auf den Mord eines unehelichen Kindes seitens der Mutter in oder gleich nach der Geburt setzt (Zuchthaus nicht unter 3 Jahren, bei mildern den Umständen Gefängniss nicht unter 2 Jahren).

Vollständiger Aufhebung des Bewusstseins, abgesehen von den Fällen starker Metrorrhagien, in denen gleichzeitig auch jede Handlungsfähigkeit aufgehoben wird, dürfte übrigens auch hier in der Mehrzahl der Fälle bestehende Hysterie oder Epilepsie zugrunde liegen und demnach die Bewusstlosigkeit des Anfalles als auf dem Boden chronischer Krankheit entstanden erscheinen lassen.

4. Bewusstlosigkeit infolge von Intoxicationen. Hierher gehören vor allem die Zustände von Bewusstlosigkeit, welche durch die acute Alkoholintoxication hervorgerufen werden (sinnlose Trunkenheit, Mania ebrio- rum acutissima, Sensuum fallacia ebriosa). Es muss in dieser Beziehung auf die Artikel Alkohol, Delirium u. s. w. verwiesen werden. Aehnliche Zustände können hervorgerufen werden durch Absinth, Opium und seine Präparate, Cocain, Colchicum, Hyoscyamus, Aether sulf., Chloroform u. s. w.

5. Zustände von Bewusstlosigkeit als Aequivalente epileptischer oder hysteroepileptischer Anfälle. In diese Kategorie gehören, wenn wir von den Intoxicationszuständen absehen, weitaus die grösste Zahl jener Zustände, welche überhaupt forensisch in Betracht kommen. Treten diese Anfälle bei Personen auf, bei denen auch in der Zwischenzeit zwischen den Anfällen bereits eine krankhafte Störung der Geistesthätigkeit eingetreten und nachzuweisen ist, dann wird eine Beurtheilung in foro keine allzugrossen Schwierigkeiten machen; nur da, wo die Intervalle zwischen den Anfällen ein psychisch normales oder annähernd normales Verhältniss zeigen, können erhebliche Schwierigkeiten entstehen, welche entweder nur durch Ver nehmung von Zeugen, respective ärztliche Beobachtung über früher vorhanden gewesene Anfälle, oder ? sicherer ? durch Beobachtung in einer Irrenanstalt und Constatirung der Wiederkehr solcher Anfälle gelöst werden können.

Im übrigen muss in Bezug auf diese Zustände auf die Artikel Epilepsie, Epilepsie forensisch, Hysterie u. s. w. verwiesen werden.


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