Zurechnungsfähigkeit: Krankhafte Störung

Heilkundelexikon

Zurechnungsfähigkeit: Krankhafte Störung


II. Zustand von krankhafter Störung der Geistesthätigkeit, durch welchen die freie Willensbestimmung ausgeschlossen ist.

Das Gesetz erkennt nicht jeden Zustand krankhafter Störung der Geistesthätigkeit als Strafausscbliessungsgrund an, sondern verlangt, dass jener Zustand derart sein muss, dass durch ihn die freie Willensbestimmung ausgeschlossen ist. Es ist hier nicht der Ort, auf philosophische Erörterung, auf metaphysische Speculationen über den »freien Willen« beim Menschen einzugehen. Mit einem absolut freien, motivlosen Willen würde weder der Mensch, noch der Gesetzgeber etwas anzufangen wissen. Der Mensch würde dann nach »Caprice« recht und schlecht sein können. Selbst ohne Motive würde derselbe auch für die Motive des Strafgesetzbuches nicht empfänglich sein. Jede Willensfreiheit kann demnach nur eine bedingte, beschränkte sein. Aber auch die Annahme dieser eingeschränkten Willensfreiheit hat aus einer Reihe von Gründen, besonders aber auch durch die moralstatistischen Untersuchungen, die regelmässige, mit einer geradezu erstaunlichen Genauigkeit und Uebereinstimmung wiederkehrende Zahl bestimmter Verbrechen, ja der Instrumente, mit denen die Verbrechen begangen werden, der Selbstmorde u. s. w. bei einem gegebenen Zustand der Gesellschaft, erhebliche Bedenken und Anfechtungen erfahren.

Wir begnügen uns unter diesen Umständen in der Psychiatrie damit, die Thatsache zu registriren, dass in unserem geistigen Leben ein Kampf der Vorstellungen stattfindet, dass in jedem Augenblicke einer auf eine Handlung gerichteten Bestrebung die associirenden ? auf die Ausführung der Handlung gerichteten Vorstellungen ? mit den contrastirenden ? die Unterlassung der Handlung fordernden ? in Widerstreit treten. Die Thatsache dieses Kampfes stellt das vor, was man mit freier Willensbestimmung bezeichnen kann. Die Ausführung oder Unterlassung der Handlung richtet sich nach der grösseren Macht der associirenden oder contrastirenden Vorstellungen. Es kann aus einem kranken Gehirn heraus demnach ebensowohl eine von dem Strafgesetz mit Strafe bedrohte Handlung eintreten, weil gewisse Triebe krankhaft gesteigert, gewisse krankhafte Vorstellungen sich übermächtig entwickelt haben und deshalb die noch vorhandenen contrastirenden Vorstellungen von Moral, Strafe u. s. w. nicht imstande sind, über jene die Oberhand zu gewinnen, als deswegen, weil die contrastirenden Vorstellungen krankhaft abgeschwächt sind und sich das Handeln demnach ohne wesentliche Einschränkungen und Hindernisse egoistischen Neigungen, augenblicklichen Eingebungen entsprechend vollzieht. Ferner ist zu beachten, dass ein nicht kleiner Theil der Handlungen, die anscheinend gewollte sind, als gewollte betrachtet werden, lediglich sich auf reflectorischem Wege vollziehen, ohne dass bestimmte Vorstellungen überhaupt darauf Einfluss haben, und ferner dass Handlungen als Ausdruck eines motorischen Dranges auftreten, hervorgebracht durch krankhafte Reizung motorischer Hirncentren.

Eine besondere Function des Hirns, welche der Sinn es Wahrnehmung, den Gefühlen, der Vorstellungsthätigkeit, der Reproductionsfähigkeit zu coordiniren wäre und welche man als Willenskraft bezeichnen könnte, existirt nicht.

Dementsprechend hat man es in der neueren Psychiatrie aufgegeben, Krankheiten des Willens, wie sie früher als Hyperbulie, Abulie u. s. w. eine grosse Rolle spielten, zu unterscheiden und hat die Handlungen, welche als Ausdruck von Willensstörung erscheinen, mit vollem Recht auf krankhafte Störungen im Wahrnehmen, Denken und Fühlen zurückgeführt.

Unter diesen Umständen muss der Passus im § 51, der von der Aufhebung der freien Willensbestimmung spricht, als nicht in die ärztliche Sach- Verständigkeit gehörig betrachtet werden, und es erscheint deswegen nur logisch consequent, wenn der Arzt es überhaupt ablehnt, die Frage nach der freien Willensbestimmung zu beantworten und sich lediglich auf die Untersuchung und Erörterung, ob krankhafte Störung der Geistesthätigkeit vorhanden oder nicht, beschränkt. *

Aber auch wenn der Arzt sich zur Beantwortung der Frage über den Ausschluss der freien Willensbestimmung entschliesst, wird er ohne jedes Bedenken es als ein Axiom der Psychiatrie hinstellen können, dass da, wo krankhafte Störung der Geistesthätigkeit vorhanden ist. eine Sicherheit nicht mehr besteht, dass jener Kampf der Vorstellungen in normaler Weise sich vollzieht, dass daher ? mag man den freien Willen in einem Sinne fassen, in welchem man auch immer wolle ? ein Bestehen der freien Willensbestimmung nicht nachzuweisen ist. Da, wo die Geistesthätigkeit krankhaft gestört ist, wird sich nie bestimmen lassen, ob bei den der Handlung vorausgehenden Vorstellungen oder den bei der Ausführung mitwirkenden nicht auch krankhaft veränderte oder auf dem Boden der Krankheit entstandene mitgewirkt haben, wenn auch anscheinend die zur Beurtheilung gestellte Handlung in gar keiner Beziehung zu den krankhaften und herrschenden Vorstellungen steht. Man darf sich die geistige Thätigkeit nicht als eine maschinenartige Einrichtung vorstellen, bei der man nach Belieben einmal eine Schraube herausnehmen kann, ohne den Gang des Ganzen zu stören; bei dem innigen Gefüge, in dem hier alle Theile miteinander verbunden sind^ wird auch das Lockerwerden eines Theiles einen Einfluss. auf das Ganze ausüben. Es würde jedenfalls zweckmässiger gewesen sein, entsprechend dem französischen Gesetz, das hier »demence« (nicht als »Blödsinn«, sondern in dem allgemeinen Sinne als »Geisteskrankheit« aufzufasseo) gebraucht, auch in das deutsche Strafgesetz statt »Zustand krankhafter Störung der Geistesthätigkeit, durch welchen die freie Willensbestimmung aufgehoben ist«, zu setzen »Geisteskrankheit«. Die Motive zu dem § 51 deuten aber darauf hin, dass man durch die Hinzufügung der freien Willensbestimmung gewisser-massen einen Damm gegen einen zu mächtigen und entscheidenden Einfluss ärztlicher Gutachten setzen wollte.

Ob Geisteskrankheit vorhanden oder nicht, darüber zu entscheiden müsste man schliesslich wohl dem Sachverständigen überlassen; ob aber, wie die Motive zur Erläuterung der Formel: »Ausschliessung der freien Willensbestimmung«, die sie als die relativ beste bezeichnen, sagen: »derjenige normale Zustand geistiger Gesundheit vorhanden ist, dem die Rechtsanschauung des Volkes die strafrechtliche Verantwortung thatsächlich zuschreibt«, diese Frage im concreten Falle zu entscheiden, dazu bedarf es keiner ärztlichen Sachverständigkeit.

Wir haben es unserer Auffassung nach also nur mit der Beantwortung der Frage zu thun, ob ein Zustand krankhafter Störung der Geistesthätigkeit vorliegt. Dabei ist es selbstverständlich, dass es dem Arzfe obliegt, die Art und Weise der Entstehung abnormer Handlungen und speciell auch derjenigen Handlung, welche Gegenstand des Strafverfahrens bildet, aus dem krankhaften Geisteszustand zu erläutern.

Zu jenen Zuständen krankhafter Störung der Geistesthätigkeit gehören:

* In den Motiven zum § 51 (damaligen § 49) des deutschen Strafgesetzbuches heisst es: Bei der gewählten Fassung des Paragraphen hat man zugleich mit den Schlussworten desselben ausdrücken wollen, dass die Schlussfolgerung selbst, nach welcher die freie Willens-bestimmung in Bezug auf die Handlung ausgeschlossen war, Aufgabe des Richters ist. Das >m Bezug auf die Handlang«, welches ursprünglich sich in dem § 49 befand, wurde bei der Plenarberathung gestrichen.

A, Die Psychosen, wie sie an verschiedenen Stellen dieses Werkes ihre eingehende Besprechung, meist auch mit Würdigung ihrer forensischen Bedeutung, erfahren haben.

Es wird demnach an dieser Stelle genügen, ohne auf die klinischen Bilder der verschiedenen Psychosen einzugehen, die Entstehung von strafbaren Handlungen aus denselben in einer übersichtlichen Darstellung zu erläutern. Wir werden derselben die fast allgemein angenommenen Hauptformen der Psychosen zugrunde legen. Bemerkt muss aber dabei werden, dass es in foro viel weniger darauf ankommt, im concreten Falle den Kranken unter irgend einer solchen Form unterzubringen, als auf den Nachweis, dass überhaupt eine krankhafte Störung der Geistesthätigkeit vorhanden ist. Wir erleben es in foro nur zu häufig, dass zwar die Sachverständigen über das Vorhandensein der krankhaften Störung der Geistesthätigkeit einig sind, der Streit unter ihnen aber im vollsten Masse ausbricht, sobald es sich darum handelt, den Kranken unter eine bestimmte Form von Psychose zu rubriciren. Es hängt dies damit zusammen, dass es bisher noch nicht gelungen ist, eine allgemeine Verständigung über die Definition der Hauptclassen, z. B. der Melancholie, der Manie, herbeizuführen, während man sich trotz dieses Mangels grundlegender Begriffe nicht hat abhalten lassen und immer von neuem versucht, kleinere Gruppen noch dazu neu zu schaffen. In foro ist die Aufstellung solcher specieller Krankheitsformen nicht blos unnütz, sondern mit Rücksicht auf den in der Regel dabei zur Erscheinung tretenden Dissens der Sachverständigen gefährlich.

Wir geben hier also eine Analyse der mit Strafe bedrohten Handlungen, wie sie bei den verschiedenen grossen Gruppen der Psychosen vorzugsweise beobachtet werden, und zwar:

1. Bei der Melancholie. Wir können hier solche Handlungen unterscheiden, welche nicht intendirt sind, welche plötzlich ohne Motiv ausgeführt werden und lediglich als reflectorische, als Entladungen eines inneren heftigen Angstgefühles auftreten. Die Uebertragung des physiologischen Angstgefühls auf die motorische Sphäre sehen wir in dem abwechselnden Oeffnen und zur Faust sich ballenden Schliessen der Hände, in dem gewaltsamen Vorstrecken der Hände, in dem wilden Werfen derselben über den Kopf u. s. w. Im pathologischen Zustande sind es die gewaltthätigen Handlungen der Melancholiker im Raptus melancholicus, die sie sowohl gegen sich selbst, wie gegen das richten, was in ihrer Nähe gerade sich befindet, ohne Rücksicht auf Ort, Zeit, Gegenwart anderer, besonders ohne Rücksicht auf den Gegenstand selbst. Während in den niederen Graden des Rapt. melanchol. die Kranken mit leichenblassem Gesicht, stierem Bück, schweigend und zitternd, mit keuchendem, bis zum Ersticken erschwertem Athem durch die Angst von einem Ort zum anderen getrieben werden, ohne Ruhe und Erleichterung ihres qualvollen Zustandes zu finden, entladet sich bei ganz acutem Auftreten und hochgradigster Steigerung die Angst in einer gewaltthätigen Handlung nach aussen, nach deren Vollführung in der Regel Beruhigung eintritt.

Die andere Reihe gewaltthätiger Handlungen Melancholischer sind intendirt, häufig lange vorbereitet, und erwachsen in ihren Motiven aus Wahnvorstellungen. Ihre rasche Ausführung wird nicht selten beschleunigt durch acut in dem Sinne der Wahnvorstellungen auftretende Hallucinationen.

In einem Theil der hierher gehörigen Fälle bleibt es dabei, dass die Kranken sich wegen der Verbrechen, deren sie sich anklagen, selbst denun-ciren, bei der Polizei und Staatsanwaltschaft um ihre Verhaftung und Bestrafung bitten. Es hat dies zuweilen den Zweck, sich den Tod zu verdienen, den sich selbst zu geben sie sich zu schwach fühlen (indirecter Selbstmord), wie z. B. bei jenen Melancholischen, die bei öffentlichen Hinrichtungen den Act dadurch zu unterbrechen versuchten, dass sie sagten, sie selbst seien die Thäter, dass man einen Unschuldigen hinrichte, dass man sie hinrichten sollte. In anderen Fällen vollführen sie Selbstverstümmelungen, um die Glieder, mit denen sie gesündigt haben, zu strafen (Selbstamputation des Penis, um sich für die Onanie zu strafen, Verbrennung der Hand, »mit der ein Meineid geleistet«).

In einer Reihe anderer Fälle dagegen suchen sie entweder den Verfolgungen, denen sie, wie sie meinen, ausgesetzt sind, durch Selbstmord zu entgehen oder auch durch Angriffe gegen die vermeintlichen Verfolger sich derselben zu entledigen.

Forensisch am wichtigsten sind hier diejenigen Fälle, in denen sich ohne heftige Angstanfälle bei äusserlich ruhigem Verhalten der Kranken die Melancholie besonders in der Richtung religiöser Wahnvorstellungen: »die Welt ist schlecht, ein besseres Jenseits kann allein, aus der Schlechtigkeit derselben befreien«, sich entwickelt, oder wo thatsächlich gerechtfertigter Kummer, wo Noth und bestehende Sorgen die deprimirte Stimmung, welche zu einer krankhaften Störung der Geistesthätigkeit geführt, veranlasst haben. Hierher gehören die Fälle jener entsetzlichen Familiendramen, wo Väter oder Mütter sich nicht blos selbst tödten oder zu tödten versuchen, sondern das Liebste, was sie haben, ihre Kinder, »mit sich nehmen«, um sie vor den Gefahren der sündigen, schlechten Welt zu schützen. Ein Theil der Fälle, die man als Amentia occulta (Platner), In-sania occulta (Friedreich) beschrieben hat, gehört hierher. (Ein anderer Theil gehört zur Paranoia.) Die Bezeichnung Amentia occulta ist in doppelter Beziehung unrichtig; es handelt sich nicht um eine Amentia, sondern um eine Melancholie, und auch nicht um für den Sachverständigen occulte Zustände, sondern höchstens um solche, die für den Laien als Zustände von Geisteskrankheit nicht deutlich sind oder es vor der That nicht waren.

c) Endlich werden gewaltthätige Handlungen von Melancholikern verübt im Zustände des Furor melancholicus, bei dem hochgradige Steigerung der Angst, Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen zusammen zur Ausführung der Handlung führen.

2. Bei der Manie. a) Eine Reihe von Handlungen, welche mit dem Strafgesetz in Collision bringen können, sind ihrer Entstehung nach auf krankhafte Fahrlässigkeit zurückzuführen. Der Maniacus wirft ein brennendes Zündhölzchen, eine brennende Cigarre, ohne bei seinem geistigen Zustande die nöthige Achtsamkeit darauf zu haben, weg und wird dadurch zum Brandstifter u. s. w.

b) Das gesteigerte Selbstgefühl und die aus der Ueberhebung der eigenen Person resultirende Rücksichtslosigkeit gegen andere bringt Maniaci bei Widerspruch leicht zu Angriffen gegen andere Personen, zu Körperverletzungen, zu Conflicten mit den Behörden, zu Majestätsbeleidigungen u. s. w.

c) Die krankhaft gesteigerten Triebe führen bei der Manie öfter zu strafbaren Handlungen, Nymphomanie und Satyriasis, zu Vergehen gegen die öffentliche Schamhaftigkeit, zu Verbrechen gegen die Sittlichkeit. Der Drang und Trieb, umherzulaufen, führt zum Vagabundiren, der Sammeltrieb zum Einstecken von allerhand Gegenständen, was dann den Verdacht des Diebstahls erweckt.

d) Wahnvorstellungen, besonders Grössenideen, können zu Urkundenfälschungen und Diebstählen in dem Wahn, dass die betreffenden Gegenstände ihnen gehören, zu Gewaltthaten gegen andere Personen, die ihnen nicht die schuldigen Ehrerbietungen erzeugen oder von denen sie meinen, dass sie ihnen hinderlich in der Erlangung der ihnen gebürenden Stellung, dass sie sie widerrechtlich einsperren, dass sie ihnen feindlich gesinnt sind, führen.

e) Ein Theil der krankhaften Handlungen stellt lediglich einen Aus-fluss des Bewegungsdranges dar, obne dass Wahnvorstellunge oder Sinnestäuschungen dabei mitwirkten. Die Kranken müssen »thätig« sein; nicht imstande aufzubauen, zerstören sie.

f) Endlich wirken im Zustande maniakalischer Tobsucht Bewe-gungsdrang, Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen zusammen, um die gewaltthätigen Handlungen hervorzubringen.

Dass eine Mania transitoria nicht existirt, habe ich an anderer Stelle ausgeführt (cf. Art. Manie). Es handelt sich bei diesen sogenannten tran-sitorischen Zuständen, deren Annahme selbstverständlich eine Gefahr für das Straf recht involviren würde, nur darum, dass die That, das hervorstechende Merkmal, transitorisch ist, die Krankheit jedoch, auf deren Boden sie entsteht, durchaus nicht entstehend und vorübergehend mit der Handlung ist.

Eine besondere Erwähnung verdient noch in Bezug auf die periodische Manie die Frage der luciden Intervalle.

In der Lehre von der Zurechnung hat die Frage über die luciden Intervalle einen grossen Streit der Meinungen hervorgerufen. Weitaus in der grossen Mehrzahl der Fälle hat man hierbei Zustände von Remissionen herangezogen, in denen die krankhaften Aeusserungen nicht zutage traten, nach aussen hin schwiegen, in denen die Krankheit aber fortbestand. Hier kann von einem Lucidum intervallum gar nicht die Rede sein; so z. B. bei den epileptischen Geistesstörungen, bei denen Zeiten von ruhigem Schwachsinn zwischen den mit psychischer Erregung einhergehenden epileptischen Anfällen (prä- und postepileptisches Irresein) oder den die letzteren ersetzenden psychischen Aequivalenten bestehen oder bei den in der progressiven Paralyse der Irren zu beobachtenden Remissionen. Es bemerkt ganz richtig der französische Kanzler d'Agnesseau über das Lucidum intervallum: »Es darf keine oberflächliche Ruhe sein, wie ein blosser Schatten der Ruhe, sondern im Gegentheil eine wirklich tiefe Ruhe, kein blosser Strahl der Vernunft, wodurch ihre Abwesenheit nur noch auffallender wird, wenn er vorüber ist.«

Auch das frühere preussische Obertribunal führt bei Gelegenheit der Zurechnungsfähigkeit eines epileptisch Geisteskranken zutreffend aus, dass eine Krankheit sehr wohl fortbestehen kann, ohne dass die Symptome derselben fortwährend äusserlich sichtbar sind. Schwieriger gestaltet sich die Frage bei der periodischen Manie. Man sieht hier allerdings bei längeren Zwischenräumen zwischen den Anfällen Zustände, die selbst bei genauester sachverständiger Untersuchung etwas Abnormes nicht erkennen lassen, und die Frage erscheint alsdann wohl gerechtfertigt, ob die in solchem Zustande begangenen Handlungen nicht als zurechnungsfähig erachtet werden sollen ?

Oft genug, und meiner Ansicht nach mit Recht, wird die während des Bestehens des Anfalles durch Interdiction aufgehobene Geschäftsfähigkeit in den Zwischenräumen wieder hergestellt. Vor dem Criminalforum bedarf es hier allerdings der sorgfältigsten Individualisirung des Falles. Vor allem sind diejenigen Fälle von vornherein auszusondern, in denen der Zwischenraum zwischen den Anfällen nur wenige Wochen oder wenige Monate beträgt. Das allmähliche Abklingen des Anfalleä, wie das allmähliche Ansteigen des neuen lässt es in solchen Fällen als absolut unmöglich erscheinen, festzustellen, dass gerade zu der fraglichen Zeit die geistige Gesundheit völlig hergestellt war. Ferner wird im concreten Falle in Betracht zu ziehen sein, wie lange der Anfall dauerte und mit welcher Heftigkeit derselbe auftrat. Ist, wie in einer Anzahl von Fällen, der Anfall nur kurz, der Zwischenraum ein sehr langer, ist die Intensität des Anfalls massig, handelt es sich, wie in manchen derartigen Fällen, eigentlich nicht um eine Mania periodica, sondern um eine Mania recidiva (in einem von mir beobachteten Falle mit etwa sechs- bis siebenjährigen Zwischenräumen vom 17. bis 73. Lebensjahre), so wird man von einem solchen luciden Intervall sprechen können, vorausgesetzt, dass zur Zeit alle Zeichen krankhafter Störung der Qeistesthätigkeit, besonders auch die häufig übersehenen Zustände einer gewissen krankhaften Schwäche, vollständig geschwunden sind. Nach all diesen Ausführungen wird man nur mit grosser Vorsicht ein lucides Intervall annehmen.

Bei der schweren geistigen Störung; in der melancholische und maniakalische Zustände mit einander wechseln, und bei der ein Remissionsstadium oft beiden folgt, dem circulären Irresein, wird von einem Lucidum inter-vallum vor dem Criminalforum nach den bisherigen Erfahrungen überhaupt nicht die Rede sein.

3. Bei der Paranoia, (cf. Diesen Artikel). Die Paranoiker gehören zu denjenigen Geisteskranken, die verhältnissmässig oft wegen der schwersten Verbrechen mit dem Strafgesetz in Conflict kommen. Ihre Gefährlichkeit wird dadurch erhöht, dass sie oft genug viele Jahre lang bei vollständig ausgebildeter Geisteskrankheit in der Freiheit leben, die Gesellschaft sich der Gefährlichkeit jener nicht be-wusst wird, indem die Kranken sorgfältig ihre Wahnvorstellungen und ihre Bestrebungen in sich verschliessen und die letzteren oft erst ganz plötzlich durch eine verbrecherische Handlung klar zutage treten, und andererseits dadurch, dass die Paranoiker in der Vorbereitung der gefährlichen Handlung, in der Wahl der Mittel, wie in der Ausführung der That bei der in der Mehrzahl der Fälle in den ersten Perioden der Krankheit wohlerhaltenen Intelligenz sorgfältig zuwerke gehen. Sie sind es auch, die gar nicht selten im vollen Bewusstsein der Strafbarkeit der Handlung, der vollen Unterscheidungsfähigkeit zwischen Recht und Unrecht, im vollen Bewusstsein sein der Strafe, die ihrem Verbrechen folgen muss, handeln, die trotz alldem sie aber ausführen, weil ihr »hoher Zweck« die Mittel heiligt.

a) Die Handlungen entstehen hier weitaus in der Mehrzahl der Fälle als Ausfluss, als Consequenz der primär sich entwickelnden Wahnvorstellungen, die mit oder ohne Hallucinationen einhergehen. In erster Reihe sind es die Wahnvorstellungen der Verfolgung, die zu Angriffen gegen die angeblichen Verfolger führen. Diese drücken sich in Beleidigungen und Schmähungen (bei dem Querulanten Wahnsinn gegen Richter, Minister, das Staatsoberhaupt häufig gerichtet) oder in gewaltthätigen Handlungen, Mord u. s. w. aus. In einer anderen Zahl von Fällen, in denen sich die Ueberschätzung der eigenen Person, Grössenwahn, aus und mit den Verfolgungsideen entwickelt haben, führen die ersteren zu Attentaten gegen die Oberhäupter der Staaten, um die Hindernisse zu beseitigen, die ihrer Weltverbesserung entgegenstehen. Dahin gehören wohl die Mörder Heinrich III. und IV. von Frankreich, der Mörder Lincoln's und wohl auch, soweit es sich nach dem bisher zu Gebote stehenden Material übersehen lässt, Nobi-ling, welcher das Attentat auf den Kaiser Wilhelm ausübte. In einer anderen Zahl von Fällen sind es vorzugsweise Delirien in religiösen Dingen, die zu verbrecherischen Handlungen führen. Dahin gehören die Stifter einer neuen Religion, die Gott vorerst ein »Opfer« bringen wollen, wie auch z. B. jener Paranoiker, der sich berufen glaubte, der Welt einen neuen Heiland zu geben und zu diesem Zwecke eine Jungfrau, seine leibliche Tochter schwängerte. Hier ist ferner jener Brandstifter zu erwähnen, der die Kathedrale von York anzündete, um das Haus des Herrn von unwürdigen Priestern zu reinigen.

Andere in diese Kategorie gehörige, besonders nach religiöser Richtung hin delirirende Kranke gehen in die Kirche und veranlassen dort durch Insulte gegen die Geistlichen, die ihrer Ansicht nach nicht das wahre Wort Gottes predigen, Störungen u. s. w. Die Delirien und Hallucinationen der Paranoia hypochondriaca führen zu Angriffen gegen diejenigen Personen, von denen die Kranken meinen, dass sie die Störungen und Veränderungen in ihrem Körper hervorbrächten. Angriffe gegen die Aerzte als Verfolger werden hier beobachtet.

b) Während die eben bezeichneten Handlungen meist lange vorher überlegt und ihrer psychologischen Entstehung nach gewöhnlich klarzulegen sind, kommen bei der hallucinatorischen Form der Paranoia plötzlich gewaltthätige Handlungen vor, welche der Effect einer eben aufgetretenen Hallucination sind. Das soeben hallucinirte Schimpfwort führt zum Angriff gegen die Person, von der jenes dem Kranken auszugehen schien, die eben gehörte Stimme Gottes lässt deren Befehl ausführen u. s. w.

c) Endlich kommen bei Paranoikern tobsüchtige Zustände unter dem Eindrucke massenhafter'Hallucinationen vor, welche nicht prämeditirte Zerstörungen und gewaltthätige Handlungen gegen Personen ohne anscheinend bestimmten Zweck herbeiführen.

4. Bei den geistigen Schwächezuständen.

Die geistigen Schwächezustände können entweder infolge angeborener oder in den ersten Lebensjahren entstandener Gehirnkrankheit entstehen und werden dann unter dem Namen Idiotismus und, wo sie endemisch und mit bestimmten körperlichen Missbildungen vorkommen, unter Cretinismus zusammengefasst, oder sie sind im späteren Lebensalter, nachdem der Geist bereits zur vollen Entwicklung gekommen war, aufgetreten und heissen dann Dementia.

Die betreffenden Artikel sind zu vergleichen und soll hier nur Folgendes hervorgehoben werden:

a) Bei dem Idiotismus entstehen strafbare Handlungen vor allem dadurch, dass der Idiot wegen seiner mangelhaften geistigen Entwicklung nicht imstande gewesen ist, jene Begriffe von Moral und Sitte sich anzueignen, welche bei dem normalen Menschen eine Hemmung der auf Befriedigung irgend eines Lustgefühls, eines Triebes, eines Affectes, wie beim Zorn, gerichteten Handlung entgegensetzen. Die Handlungen vollziehen sich demnach blindlings jenen Gefühlen und Trieben folgend. Dazu kommt, dass in der Regel auch die Einsicht in die Folgen der Handlung, in die Strafbarkeit derselben fehlt.

In Bezug auf die Auffassung der Unrechtmässigkeit, der Ungesetzlichkeit der incriminirten Handlung seitens des Kranken darf man sich aber dadurch nicht täuschen lassen, dass eine Anzahl dieser Idioten die zehn Gebote herzusagen wissen und auch das Gebot kennen, durch das die betreffende Handlung verboten ist, dass sie auch angeben, dass das Strafgesetz ihre Handlung als eine strafwürdige hinstellt; dieses Hersagen involvirt nicht das Verständniss dafür, es hat nur den Charakter einer Reproduction; die Kranken sind wegen mangelnder ethischer Begriffe nicht imstande, die Motive zu erfassen, aus denen ihre Handlung verboten ist, und stehen somit auf dem Boden von Kindern, denen das Strafrecht keine strafrechtliche Verantwortung zuerkennt.

Auf die somatische Untersuchung ist in diesen Fällen ein besonderer Werth zu legen, und es wird der Nachweis körperlicher Missbildungen dem Richter gegenüber in solchen Fällen, die dem Laien nicht von vornherein klar sind, die Aufgabe erleichtern durch den Hinweis, wie unter dem allgemeinen Einfluss einer krankhaften Anlage oder Störung der natürlichen Entwicklung auch das Gehirn und mit ihm die Geistesthätigkeit gelitten hat.

Fehlt es demnach bei den Idioten an jenen hemmenden Einflüssen, welche die Moral oder das Strafgesetz auf unsere Handlungen ausübt, öder sind jene Hemmungen nur in sehr unbedeutendem, schwachem Grade ausgebildet, so finden wir auf der anderen Seite häufig die sinnlichen Triebe, die Begierden, die Affecte stärker als in der Norm entwickelt. So erklären sich die strafbaren Handlungen gegen das Eigenthum, gegen die Sittlichkeit bei den Idioten, so entstehen im Affect des Zornes die gewaltthätigen Handlungen gegen die Person, die Handlungen aus Rache (Brandstiftungen nach unbedeutenden oder eingebildeten Schädigungen des Kranken seitens des Dienstherrn).

Endlich ist noch zu erwähnen, dass bei Idioten Zustände von Tobsucht vorkommen, in denen sie blindem Zerstörungsdrange folgen. Ein erheblicher Theil dieser Zustände hat den Charakter der epileptischen Tobsucht, wie ja überhaupt Epilepsie oder epileptoide Zustände ungemein häufig die Idiotie begleiten.

Ein je nach der genossenen Erziehung höherer oder niederer Grad von Idiotismus ist sehr häufig auch bei solchen Menschen vorhanden, die wegen Mangels des Gehörssinns nicht imstande sind, sich die für den normalen Ablauf unsere s geistigen Lebens nothwendigen Vorstellungen anzueignen. Das deutsche Strafgesetz hat ihrer besonders in dem § 58 gedacht, in dem es bestimmt, dass ein Taubstummer, welcher die zur Erkenntniss der Strafbarkeit einer von ihm begangenen Handlung erforderliche Einsicht nicht besass, freizusprechen ist.

Hierher gehörig ist ferner noch eine Unterart des Idiotismus zu erwähnen, welche als moralischer Wahnsinn bezeichnet wird. Auch hier handelt es sich um angeborene oder in früher Jugend erworbene, aber in der Regel niedere Grade intellectueller Schwäche, bei denen die Neigung und der Trieb zu unsittlichen Handlungen besonders stark hervortritt. Das Krankheitsbild, wie die Entwicklung strafbarer Handlungen auf dem Boden desselben ist in dem Artikel Moral insanity zu ersehen.

b) Die erworbenen geistigen Schwächezustände können entweder secundär sich entwickeln oder sie können der Ausdruck einer primär auftretenden organischen Hirnerkrankung sein. *

1. Die secundäre Dementia. Es muss hier, um Wiederholungen zu vermeiden, auf den Artikel Dementia hingewiesen werden. Es ist dort angegeben, dass der secundäre Blödsinn entstehen kann:
a) Nach primären Geistesstörungen (Delirium hallucinatorium, Melancholie, Manie, Paranoia, acuter Dementia).
b) Nach schweren centralen Neurosen, unter denen die Epilepsie weitaus die hervorragendste Stelle einnimmt.
c) Nach chronischen Vergiftungen des Hirns (Alkoholismus, Morphinismus u. s. w.). Der Nachweis der secundären Dementia erscheint dann besonders erleichtert, wenn das primäre Leiden mit unverkennbaren Zeichen der krankhaften Störung der Geistesthätigkeit einhergegangen und ärztlich beobachtet worden ist. Dieses ist aber durchaus nicht immer der Fall. In den ärmeren Volksclassen kann eine massig entwickelte Melancholie, ja selbst eine Manie niederen Grades lange bestanden haben, ohne von den Angehörigen beson-
* Die primäre acute Dementia (cf. Artikel Dementia) dürfte forensisch kaum eine Bedeutung haben.
derer Aufmerksamkeit gewürdigt worden zu sein. Es bedarf dann sorgfältiger Nachforschung, um das primäre Stadium zu finden, das secundär zu dem bestehenden Zustand von Dementia geführt hat. Die Handlungen dieser De-menten entspringen zum Theil aus den aus dem primären Zustand mit hinüber gebrachten Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen und wird in dieser Beziehung auf das oben bei den primären Psychosen Ausgeführte verwiesen. Allerdings ist mit der Abnahme der Intelligenz auch die Abnahme der Energie, mit der die Handlungen ausgeführt werden, die Abnahme des Affects, der sich in diesen ausdrückt, in der Regel verbunden.

Zum anderen Theil resultiren die Handlungen aus dem Verluste der moralischen Hemmungen, welcher die Dementia begleitet. In dieser Beziehung ähneln sie denen der Idioten, welche jene moralischen Hemmungen überhaupt nicht erworben haben. In Bezug auf die verschiedenen Grade der geistigen Schwäche und die Beurtheilung der Handlungen ist der Artikel Dementia 1. c. zu vergleichen; es mag hier nur darauf hingewiesen werden, dass zur Beurtheilung niederer Grade von Dementia (Schwachsinn) die ganze Individualität, der Lebensgang des Individuums, der Unterschied zwischen jetzt und früher, das Benehmen und die Thatkraft im Leben, nicht blos die Aeusserungen und sein Verhalten im Gefängniss oder der Irrenanstalt in Betracht gezogen werden müssen. Bei diesen Zuständen secundären Schwachsinns zeigt sich öfters die krankhafte Störung der Geistesthätigkeit viel weniger darin, dass die Kranken irre reden oder irre handeln, als darin, dass sie bestimmte Antworten, die man von ihnen nach ihrer socialen Stellung, nach ihrem Bildungsgange erwarten konnte, nicht geben, gewisse Handlungen, deren Ausführung unter gegebenen Verhältnissen geboten erschien, unterlassen.

Unbedeutende Anlässe können dann auf der anderen Seite dieselben Kranken, welche anscheinend ungemein ruhig, ja mehr apathisch sind, zum Zorne gereizt, zur Befriedigung irgend eines egoistischen Triebes geführt haben.

2. Die organischen Hirnerkrankungen als Ursache krankhafter Störung der Geistesthätigkeit. Weitaus die meisten organischen Hirnerkrankungen gehen mit einer krankhaften Störung der Geistesthätigkeit einher, Veränderungen des Charakters, grössere Reizbarkeit auf der einen Seite, mangelnde Energie auf der anderen, Störungen des Gedächtnisses, Ab-schwächung der Intelligenz sind vorübergehend oder dauernd Begleiter organischer Hirnerkrankung. Man wird es als Grundsatz aufzustellen haben, dass da, wo aus dem Bestehen der Aphasie, von apoplectiformen oder epilepti-formen Anfällen, von somatischen Symptomen speciell im Gebiete des peri-pheren Nervensystems, von Lähmungen, Krämpfen, Anästhesien u. s. w. der Nachweis einer bestehenden Gehirnerkrankung geführt werden kann, von vornherein die Annahme einer krankhaften Störung der Geistesthätigkeit in hohem Grade wahrscheinlich gemacht ist, dass es besonderer Beweise bedarf, dass in der That geistige Gesundheit besteht und dass man sich zur Annahme einer solchen nur dann wird entschliessen können, wenn der Pro-cess, der seinerzeit die somatischen Symptome hervorgerufen, längst abgelaufen, während jene persistiren (z. B. bei Lähmungen nach Apoplexia cerebri, Meningitis, Verletzungen des Hirns u. s. w.) und nachweislich früher etwa deutlich vorhanden gewesene Symptome geistiger Störung vollständig verschwunden sind.

Im allgemeinen tragen die psychischen Störungen bei organischen Hirnerkrankungen das Gepräge der krankhaften Herabsetzung der geistigen Kraft, des Schwachsinns oder Blödsinns; Wahnvorstellungen und Hallucina-tionen entwickeln sich dabei jedoch nicht selten. Dass derartige Kranke bisher weniger Gegenstand psychiatrischer Untersuchung waren, beruht darauf, dass die betreffenden Kranken wegen ihrer körperlichen Lähmungs-zustände in der Mehrzahl der Fälle nicht als »gefährlich« erachtet werden und deshalb nicht in die Irrenanstalten kommen, und weil andererseits die Lähmungssymptome, als das hervorstechendste Merkmal, sie den inneren Kliniken und dem Hospitälern und Siechenanstalten zuführen. Zwei Krankheiten machen hiervon eine Ausnahme, d. i. die senile Hirnatrophie, welche nach dem psychischen Symptomencomplex als Dementia seniiis bezeichnet wird und die progressive Paralyse der Irren, bei der weitaus in der Mehrzahl der Fälle sich eine Encephalitis interstitialis corticalis difussa nachweisen lässt.

Was die erstere anbetrifft, so ist hier auf den betreffenden Artikel (Dementia) zu verweisen. Strafbare Handlungen entwickeln sich hier zum Theil aus dem Zustande der geistigen Schwäche in der geschilderten Weise, zum Theil aus einzelnen krankhaft gesteigerten Trieben, unter denen der Sammeltrieb (Stehlen) und der Geschlechtstrieb besonders hervorzuheben sind.

Die forensische Bedeutung der progressiven Paralyse der Irren hat mit der zunehmenden Ausbreitung der Krankheit erheblich an Bedeutung gewonnen. Die hier in Betracht kommenden Handlungen können resultiren:

a) Aus dem melancholischen oder melancholisch-hypochon-drischen Stadium. Die Kranken suchen Rache zu nehmen an ihren Verfolgern, machen Angriffe gegen dieselben, wollen die Aerzte umbringen, welche sie vergiftet u. s. w.

b) Aus dem maniakalischen Stadium der progressiven Paralyse. Die betreffenden Handlungen entwickeln sich in ganz ähnlicher Weise wie bei der Manie. Gesteigertes Selbstgefühl und Rücksichtslosigkeit bringt die Kranken in Conflict mit anderen, mit Behörden, führt zu Prügeleien, zu Majestätsbeleidigungen; krankhaft gesteigerte Triebe führen zu Vergehen gegen die öffentliche Schamhaftigkeit, zu Päderastie, zu unzüchtigen Handlungen mit Kindern; Wahn Vorstellungen und Schwäche des Urtheils zu Urkundenfälschungen und Diebstählen. Endlich ist hier noch der ziel- und zwecklose Drang umherzulaufen, das Vagabundiren, zu erwähnen. Sind diese Handlungen in ihrer psychologischen Entstehung nun auch denen in den betreffenden primären Psychosen (Manie und Melancholie) ähnlich, so zeichnen sie sich doch sowohl in Bezug auf die Motive, wie in Bezug auf Vorbereitung und Ausführung der That wesentlich durch die von Anfang an bei der Paralyse geschwächte geistige Kraft aus; der Charakter des Blödsinns mischt sich hier überall ein (cf. die in meiner Monographie über progressive Paralyse der Irren, Berlin 1880, pag. 120 u. f. citirten Beispiele).

Eine Reihe strafbarer Handlungen der Paralytiker verdankt aber lediglich ihre Entstehung dem
c) blödsinnigen Stadium, in welchem auch das Gedächtniss erheb lich geschwächt ist. So entstehen Meineide, Brandstiftungen, Bigamie bei einzelnen Paralytikern, welche vergessen haben, dass sie schon verheiratet sind; endlich selbst, wenn auch selten, capitale Verbrechen, weil sie die Be deutung ihrer Handlung und die Folgen derselben nicht einzusehen imstande sind. Sie sind in diesem Stadium zuweilen die gefügigen Werkzeuge in den Händen von zurechnungsfähigen Verbrechern (cf. den berühmten Process Chorinsky). In manchen Fällen bieten sie neben deutlichen Zeichen geistiger Schwäche einen besonderen Trieb zu allerhand unmoralischen Handlungen in ähnlicher Weise wie man dies bei der Moral insanity sieht. Die Handlungen der Paralytiker im Remissionsstadium sind, da hier die Krankheit fortbesteht, wenn sie auch nach aussen hin sich weniger geltend macht, ihnen nicht zuzurechnen.

B. Zustände von krankhafter Störung der Geistesthätigkeit werden nun aber noch beobachtet bei Affectionen, welche nicht als Psychosen bezeichnet werden, sondern bei denen die Hirnerkrankung nur eines der Symptome, die Complication bestehender Erkrankung anderer Organe ist, so bei den verschiedenen Erkrankungen innerer Organe.

Es ist die Zusammenstellung der hierhergehörigen Fälle bereits in dem Artikel Delirium erfolgt und wird auf diesen hingewiesen. Ein Theil der hierhergehörigen Fälle wird sich unter die Zustände von Bewusstlosigkeit einreiben lassen, wenn es sich um einen sehr acuten Verlauf derselben handelt.

In den meisten Fällen gehen die gewaltthätigen Handlungen derartiger Kranken aus Hallucinationen hervor, sind die Folgen augenblicklicher Eindrücke ohne Prämeditation, ohne Rücksicht auf Ort, Zeit und Umstände. In der Regel ist die Sicherung der Diagnose nicht schwierig, wenn es sich um Handlungen auf der Höhe einer fieberhaften Erkrankung handelt; schwieriger wird dieselbe schon, wenn die Handlungen in dem fieberlosen Stadium der Reconvaiescenz geschehen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass nicht selten einzelne Hallucinationen mit dem Glauben an die reale Existenz derselben aus dem fieberhaften Stadium (besonders häufig bei Typhus) in die Reconvaiescenz mit hinüber genommen werden. Die Intelligenz kann dabei im übrigen andauernd normal sein, wenn auch in der Regel eine gewisse krankhafte Alterationen der Gefühle (leichte Gerührtheit, erhebliche Reizbarkeit und Schwäche des Gedächtnisses) besteht.

C. Ganz ähnliche Zustände treten bei Intoxicationszuständen auf. Soweit sie Zustände von Bewusstlosigkeit herbeiführen, wurde ihrer bereits oben gedacht und ist auch der Artikel Delirium (Intoxicationsdelirium) zu vergleichen.

Es handelt sich hier im Gegensatz zu den acuten Störungen der Bewusstlosigkeit um die mehr subacuten Störungen des Delirium tremens, wie er durch Alkohol, Morphiumvergiftung, Cocainismus, Aether u. s. w. hervorgerufen werden kann. Auch hier sind Hallucinationen in der Regel der Ausgangspunkt der gewaltthätigen Handlungen. Besondere Erwähnung verdienen hier nur noch die nicht seltenen Anschuldigungen derartiger Kranken vor der Polizei oder dem Strafrichter über verbrecherische Handlungen, die angeblich gegen sie oder andere ausgeführt worden sind. Die Kranken haben diese Dinge im Delirium erlebt, glauben an die Wahrhaftigkeit derselben, auch wenn die Hallucinationen verschwunden, und werden dann zu falschen Anklägern.


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So entsprechen vor allem die genannten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen nicht dem aktuellen Stand der Medizin, die Anwendung kann nicht nur die Diagnose einer Erkrankung verzögern, sondern auch direkt den Körper schädigen.

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