Wehen und Wehenanomalien: Wehenphysiologie

Heilkundelexikon

Wehen und Wehenanomalien: Wehenphysiologie


Wenn wir auch vom praktischen Standpunkte aus gewohnt sind, die Schwangerschaft von der Geburt scharf zu scheiden, so darf andererseits doch nicht vergessen werden, dass diese Scheidung keine scharf begrenzte ist, da sich bereits in den letzten 2 bis 3 Wochen der Schwangerschaft deutlich objectiv nachweisbare Uteruscontractionen einstellen, die von den Schwangeren als Ziehen im Kreuze und Spannung in der Unterbauchgegend verspürt werden. Braxton-Hicks83) macht darauf aufmerksam, dass die ganze Zeit der Schwangerschaft hindurch in regelmässigen Zwischenräumen von 5 ?20 Minuten Uteruscontractionen in der Dauer von 3 ?5 Minuten auf treten, die man innerhalb der ersten vier Schwangerschaftsmonate nur mittels der bimanuellen Untersuchung, späterhin aber mittels blossen Auflegens der Hand nachweisen kann. Er nimmt an, dass sie durch den Kohlensäuregehalt des Blutes hervorgerufen werden. Dickinson84) verwerthet sie zur Stellung der Diagnose der Schwangerschaft innerhalb der ersten 7 Wochen. Diese von Schatz85) ganz richtig als Schwangerschafts wehen bezeichneten Contractionen haben insoferne einen günstigen Einfluss, als durch sie die unteren Abschnitte des Uterus aufgelockert und ausgedehnt werden, wodurch späterhin der Durchtritt der Frucht erleichtert wird.

Wie alle Contractionen glatter Muskelfasern, sind auch die Wehen vom Willen unabhängig. Sie treten unwillkürlich ein und hören ebenso auf. Durch psychische Affecte können sie jedoch angeregt oder modificirt werden, ähnlich wie die Bewegungen des Darmes und die Herzcontractionen durch das gleiche Moment alterirt werden können. Die Wehe stellt sich periodisch ein. Der Uterus contrahirt sich, erschlafft und contrahirt sich nach einer Zeit neuerlich. Im Beginn der Geburt ist der Intervall zwischen zwei Wehen ein langer und die Contraction eine kurze. Im weiteren Verlaufe aber dreht sich das Verhältniss um, d. h. der Intervall wird kürzer und die Dauer der Wehe länger. Den freien Intervall zwischen je zwei Wehen nennt man Wehen pause. Die Wehenpause ist nicht allein auf den Geburtsbeginn beschränkt, sie kommt auch später noch vor, nach abgeflossenen Wässern und selbst im Puerperium. Die Energie der Wehen drückt sich in der Intensität und in der raschen Aufeinanderfolge der Contractionen aus, steht aber mit der Constitution oder dem Allgemeinbefinden der Kreissenden in keinem Con- nexe, den oft sind die Wehen bei robusten Individuen schwach und bei schwächlichen herabgekommenen sehr kräftig. Ausgenommen pathologische Verhältnisse, steht die Energie der Wehen im geraden Verhältnisse zur Grosse des zu überwindenden mechanischen Widerstandes. Daher rührt auch die bekannte Erscheinung der sehr energischen Wehen bei Gegenwart des engen Beckens. Die bis vor kurzem noch herrschende Ansicht, dass gewisse Formen des engen Beckens, wie namentlich das rachitische, an sich schon eine ungemein intensive Wehenthätigkeit hervorrufen, ist eine ganz irrige.

Die Wehen währen nicht blos so lange, bis die Frucht mit ihren Adnexen ausgetrieben ist, sondern erstrecken sich noch eine Zeit in das Puerperium hinein und sind sie es, die die Involution des puerperalen Uterus einleiten und unterstützen. Nur die ersten Anfänge vorzeitig sich einstellender Wehen lassen sich mittels des
Viburnum prunifolium beheben (Schatz86), Cordes87), sobald aber einmal die Wehenthätigkeit im Gange ist, lässt sie sich durch kein Mittel mehr zum Stillstand bringen. Wie bei jeder Muskelcontraction können wir theoretisch auch am Uterus während der Wehe ein Stadium incrementi, Akme und decrementi annehmen. Dementsprechend finden wir bei Auflegen der Hand auf den kreissenden Uterus, dass derselbe härter wird und sich verkleinert, eine Weile in diesem Stadium der Härte und Verkleinerung verharrt, während dem er rundlicher wird, seine Contouren schärfer hervortreten und es den Anschein gewinnt, als ob er sich aufstellen würde, worauf er allmählich wieder erschlafft. Mehrseitig wurde versucht, die Dauer der einzelnen Wehen abschnitte, die Intensität der Wehen und die Dauer der Wehenpause mittels des sogenannten Tokodynamometers graphisch darzustellen. Der Schatz?sche88) Tokodynamometer besteht aus einem mit Wasser schwach gefüllten, über dem Kopfe in der Uterushöhle liegenden Gummiballon, einem Queck silbermanometer, der durch einen Gummischlauch mit dem Ballon in Verbindung steht und einem Ludwig'schen Kymographion. Der Druck, unter dem der Gummiballon während der Wehe steht, wird am Manometer abgelesen und auf der Trommel des Kymographion aufgezeichnet. Westermark89) fuhrt statt des Gummibaiions einen kleinen Kolpeurynter ein. Bei dem Schäfer'schen90) Tokodynamometer dagegen wird der feuerwehrhelmartige Apparat mit einer grossen Pelote dem Unterleibe der Schwangeren aufgesetzt. Die Ergebnisse der Tokodynamometrie sind in wissenschaftlicher Beziehung recht mager und in Bezug auf die Praxis so ziemlich werthlos. Wir erfahren, dass das Stadium incrementi im Mittel 15 ?16, das der Akme 35 ?36 und das Stadium decrementi durchschnittlich 32 ?33 Secunden an dauert, dass der Druck, der während der Schwangerschaft bei unthätigem Organ durch den Tonus des Uterus und der Bauchmusculatur ausgeübt wird, 5 Mm. Hg beträgt, dass dieser Drück auch während der Wehenpause der gleiche bleibt, so lange nicht die Verdickung der Uterusmusculatur mit der Verringerung des Inhalts zugenommen hat, und dass der zur Geburtsbeendigung durch die Wehe und Bauchpresse nöthige Druck zwischen 80 bis 250 Mm. wechselt, demnach die zur Austreibung des Kopfes nöthige Kraft etwa 872 ?27 ]/2 Kgrm. beträgt. Die Ergebnisse, dass die Wehen im ?Geburtsbeginn einander langsam folgen und schwach sind, gegen das Ende der Geburt dagegen, wo es sich um den Austritt des Kopfes handelt, ein ander rasch folgen, intensiver sind und länger andauern, sind insofern werth los, als dies alles empirisch schon längst bekannt war. Zu beachten ist Aber, dass dort, wo der Gummiballon in den kreissenden Uterus einge führt wird, die Ergebnisse der tokodynamometrischen Experimente kein richtiges Spiegelbild der thatsächlichen Verhältnisse geben, da durch die ¦mühselige Einführung des Ballons die Füllung desselben und das Verweilen desselben im Uterus ganz ungewöhnliche, der Norm durchaus nicht ent sprechende Verhältnisse geschaffen werden, deren graphischer Ausdruck nicht als die Norm angesehen werden kann. Dass sich die so ziemlich werthlose Tokodynamometrie, insofern sie mittels eines intrauterinalen Ballons vorgenommen wird, mit den heute gestellten Anforderungen an eine möglichst aseptisch geleitete Geburt absolut nicht vereinbart, sei nur neben bei erwähnt.

Im Geburtsbeginn, so lange die Wehen schwach sind, verspürt sie die Kreissende nur als ein unbestimmtes Drängen und Ziehen nach abwärts in der Kreuzbein-und Unterbauchgegend. Später aber, wenn sie intensiver werden, machen sie sich als ziehende Schmerzen bemerkbar, die in der Kreuzbeingegend ihren Anfang nehmen und gegen den Schoss, sowie in die Oberschenkel ausstrahlen. Die Wehe ist daher, wie dies auch ihr Torminus schon anzeigt, mit einem Schmerzgefühl, dem sogenannten Wehenschmerz, verbunden. Er entsteht dadurch, dass die im Muskelgewebe des Uterus ver laufenden Nerven gedrückt und gezerrt werden. Deshalb muss der Grad des Schmerzes mit der Intensität der Wehe zunehmen. Im weiteren Verlauf der Oeburfc kommt zum Wehenschmerz noch der Schmerz hinzu, den die Fruchte durch Druck auf die im Becken verlaufenden Nerven hervorruft, und jener, der durch die passive Ausdehnung und Zerrung der Uterusmündung, der Vagina und Vulva verursacht wird, wodurch das Geburtsgeschäft zur schmerzhaftesten physiologischen Function wird. (Davon, dass die Geburt zuweilen nur unter geringen oder selbst gänzlich fehlenden Schmerzen vor sich geht, soll weiter unten gesprochen werden.)

Während einer jeden Wehe werden die im Uterus verlaufenden Blut- gefässe comprimirt und wird dadurch der grösste Theil ihres Inhalts in den grossen Kreislauf zurückgetrieben. Der arterielle Druck steigt bis zur Höhe der Contraction und ebenso die Pulsfrequenz. Letzteres wird aber von Probyn-Williams und Lennard Cuttler91) geleugnet. Auch die Körper temperatur erhebt sich während der Wehe, wenn auch nur um ein Geringes von 0, 1 bis höchstens 0, 4 °, und zwar namentlich bei Erstgebärenden, Hennig92), Glöckner93), Krönig94), Giles. 9ß) Steigt die Körpertemperatur nicht höher an, so beruht dies darauf, dass während der Wehenpause eine Ausgleichung der Wärme eintritt und während der Wehe ein Gleiches durch die Verdunstung der Schweisssecretion der leicht gekleideten, entblössten Kreissenden stattfindet. Die Respirationsfrequenz ist des Schmerzes und der agirenden Bauchpresse wegen erhöht, die vitale Lungencapacität dagegen nach Vejas96) vermindert. Die Harnausscheidung ist nach Winckel97) gesteigert und besteht gleichzeitig eine, übrigens bald nach der Geburt wieder verschwindende Acetonurie (Convelaire98). Beinahe stets findet sich eine Steigerung der Patellarreflexe (Neumann99), deren Ursache im Geburtsact selbst liegt und davon herrührt, dass sich während des letzteren das Centralnervensystem in einem Zustande erhöhter Reizbarkeit befindet. Der Fötal puls wird verlangsamt, so dass er pro Minute bis auf 90 Schläge sinken kann. Diese Erscheinung wird nach Kehrer100) durch Druck auf den Kopf, respective das Gehirn und durch Reizung des Vagus, nach Schultze101) durch eine leichte Asphyxie bedingt, hervorgerufen durch eine gehemmte Sauerstoffaufnahme, veranlasst durch die Compression der Placenta, nach Schwarz102) dagegen durch eine intracardiale Drucksteigerung.

Die Wehen verkleinern den Uterus. Der Uterus ist nämlich ein verfilzter Hohlmuskel und zieht sich daher in seiner Totalität zusammen (Werth108), Werth und Grüsdew104), nicht etwa peristaltisch, blos nach einer Richtung hin, und zwar entsprechend der verschiedenen Dicke seiner Wandungen in seinen verschiedenen Abschnitten, mit ungleicher Kraft. Bei Thieren, die einen zweihörnigen Uterus besitzen, verlaufen die Uteruscon- tractionen peristaltisch. Schatz entnimmt aus seinen Wehencurven, dass sich auch bei dem menschlichen Weibe eine Peristaltik der Uteruscontrac- tionen findet. Sollte dies auch der Fall sein, so ist diese Peristaltik eine so kurze, dass sie nicht zur Perception gelangt, auf den Geburtsact keinen. Einfluss ausübt, demnach unbeachtet bleiben kann.


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