Zungenlähmung

Heilkundelexikon

Zungenlähmung

Zungenlähmung, Glossoplegie, Lähmung im Gebiete des Nerv, hypoglossus, entsteht am häufigsten als Symptom von Gehirnaffectionen, selten bei Rückenmarkskrankheiten; noch seltener ist sie peripheren Ursprunges. So findet sie sich gewöhnlich bei Hemiplegien infolge von Hirnhämorrhagie oder Embolie und anderen Herderkrankungen; sodann bei Bulbärparalyse und angedeutet auch bei allgemeiner Paralyse. Spinalen Ursprunges ist sie bei Brüchen des Atlas, sehr selten als Symptom bei Tabes und absteigender secundärer Degeneration (Grasset5).

Peripherische Lähmung kann entstehen durch Druck von Geschwülsten auf die Austrittsstelle des Nerven aus dem Gehirn oder durch Geschwülste und Traumen am Halse (Mitchell4) oder durch neuritische Läsionen des Hypoglossus.

Die Lähmung kann einseitig auftreten oder doppelseitig; letzteres auch nicht selten bei centralem Sitz der Ursache. Bei einseitiger Lähmung sieht man die Zungenspitze beim Herausstrecken nach der gelähmten Seite hin abweichen. Dies erklärt sich am ungezwungensten aus der eigenthümlichen Wirkung des nicht gelähmten M. genioglossus, der die Spitze nach der gelähmten Seite schiebt, weil hier der Widerstand des gelähmten Genioglossus fehlt (Schiff).

Bei doppelseitiger completer Lähmung liegt die Zunge am Boden der Mundhöhle wie eine regungslose Fleischmasse, die willkürlich gar nicht oder nur in sehr unvollkommener Weise bewegt werden kann. Häufig ist sie atrophisch und zeigt tiefe Furchen, nicht selten auch fibrilläre Zuckungen und die Erscheinungen partieller oder completer Entartungsreaction; so namentlich in späteren Stadien der amyotrophischen Bulbärparaiyse , während die central bedingten Lähmungen durch Hämorrhagie, Embolie u. s. w. keine Atrophie zur Folge haben. Bei unvollständiger Lähmung sind langsame, zitternde Bewegungen noch möglich. Francotte15), Fr. Schultze16) und Ascoli19) haben Fälle von congenitaler Hemiatrophie der Zunge beschrieben. Hirsch18) hat nach einem Revolverschuss in den Mund (Eindringen der Kugel in der Höhe des Dornfortsatzes des vierten Halswirbels) linksseitige atrophische Zungenlähmung beobachtet.

Da die beiden Hauptverrichtungen der Zunge beim Sprechen und Kauen hervortreten, so bedingt die Glossoplegie eine mehr weniger hochgradige Störung dieser Functionen: articulatorische und masticatorische Glossoplegie (Romberg1). Die Articulationsstörungen bestehen bei einseitiger oder unvollständiger Lähmung der Zunge nur in erschwerter Aussprache der Zungenlaute; bei vollständiger doppelseitiger Lähmung dagegen wird die Sprache ganz undeutlich und unvollständig, weil jede Artikulation fehlt. Die masticatorischen Störungen bestehen sowohl in Erschwerung der Bewegung der Speisen innerhalb der Mundhöhle beim Kauen selbst, wie namentlich auch beim Herunterdrängen des Bissens in den Schlund, wobei mit dem Finger nachgeholfen werden muss. Die Prognose ist im allgemeinen ungünstig, da die Therapie bei den meist zugrunde liegenden schweren, centralen Läsionen nichts vermag. Locale Elektrisirung der Zunge oder des Hypoglossus ist zu versuchen.

Literatur:
1) Romberg, I, 3, pag. 78.
2) Erb, Lehrbuch der Krankheiten der cerebrospinalen Nerven. 2. Aufl., pag. 493.
3) A. Eulenburg, Lehrbuch der Nervenkrankheiten 2. Aufl., 2. Th., pag. 176.
4) Weir Mitchell, Injuries of nerves (pag. 366 der französischen Uebersetzung).
5) Grasset, Montpellier m6d. Juni 1878.
6) Moser, Beitrag zur Diagnostik der Lage und Beschaffenheit von Krankheitsherden der Oblongata. Deutsches Arch. f. klin. Med. 1884, XXXV, pag. 418.
7) Ballet, De l'hemiatrophie de la langue. Arch. de Neurol. 1884, VII, 20.
8) Hirt, Ueber Hemiatrophie der Zunge. Berliner klin. Woehenschr. 1885, Nr. 25.
9) Erb, Ein seltener Fall von atrophischer Lähmung der Nervi hypoglossi. Deutsches Arch. für klin. Med. 1885, XXXVII, pag. 265
10) Remak, Ueber saturnine Hemiatrophie der Zunge. Berliner klin. Woehenschr. 1886, XXIII, 25.
11) Sauer, Fall von traumatischer Hypoglossus- und Accessoriuslähmung. Inaug. -Diss. Göttingen 1886.
12) Hughlings Jackson, Lancet. 1886, I, Nr. 15.
13) Pel, Berliner klin. Woehenschr. 1887, Nr. 29.
14) Koch et Marie, Hemiatrophie de la langue. Revue de möd. 1888, VIII, 1. (Vollständige Zusammenstellung und Analyse der Casuistik.)
15) Xavier Francotte, Hemiatrophie de la langue, paralysie spastique des extremites interieures. Liege 1888.
16) Friedrich Schultze, Neurolog. Centralbl. 1888, Nr. 15.
17) R. v. Limbeck, Prager med. Wochenschrift. 1889, Nr. 16.
18) W. Hirsch, Notes on a case of traumatic injury of the pneumogastric, hypoglossal and sympathetic nerves. New York med. Journ. LXVI, Nr. 24.
19) Ascoli Sull' emiatrofia della lingua. Policlinico, I, 8 (1897).
20) Luzatti, Un caso di emiatrofia della lingua. Bolletino delle cliniche di Milano (1897), pag. 512.

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