Zungenkrampf

Heilkundelexikon

Zungenkrampf

Krampf im Gebiete des Nervus hypoglossus. Wir können eine klonische und eine tonische Form unterscheiden. Am häufigsten beobachtet man ihn als Theilerscheinung bei den verschiedensten allgemeinen Krämpfen: Epilepsie, Chorea, Hysterie; nicht selten bei Affectionen der Hirnrinde (Meningitis) oder der Medulla oblongata (Bulbärparalyse).

Idiopathische, auf die Zunge beschränkte Krämpfe sind äusserst selten. Erb1) sah bei einem jungen, geisteskranken Mädchen, Seeligmüller bei einer alten Frau die Zunge anfallsweise schnell hintereinander vor- und rückwärts gezogen werden. In einem Falle von Tic douloureux (Romberg2) traten Zuckungen der Zunge ein, so oft die Schmerzen in sie einstrahlten. Mitchell3) sah tonischen Krampf der Zunge nach Entfernung einer Anzahl cariöser Zähne und Heilung von Ulcerationen am Zahnfleisch verschwinden. Schliesslich beruhen das eigentliche Stottern, sowie die sogenannte Aph-thongie (Fleury) auf Krämpfen im Hypoglossusgebiet, welche sich bei jedem Versuche zu sprechen einstellen und bei der Aphthongie dasselbe unmöglich machen. 0. Berger4) hat zwei Fälle von idiopathischem Zungenkrampf beschrieben: »Ohne jede Kopfbeschwerde, mitten im besten Wohlsein, empfand die 28jährige, nicht hysterische Kranke plötzlich eine eigenthümliche, zwar unangenehme, doch nicht gerade schmerzhafte Empfindung von Spannung oberhalb des Kehlkopfes, dicht unter dem Kinn und bald darauf ein Gefühl, als wenn die Zunge geschwollen wäre und die ganze Mundhöhle ausfüllte, »ein Wogen in der Zunge«, die Sensation »einer wellenförmig von hinten nach vorn fortlaufenden Bewegung«. Nach 1?l 1/2 minutenlanger Dauer dieser »Aura« wird nun die Zunge unwillkürlich und unbezwinglich mit grosser Gewalt und in rhythmisch sich rasch folgenden Zuckungen (circa 50?-60mal in der Minute) nach vorn gestossen.« Der Anfall dauert 1?2 Minuten. Heilung durch eine Combination von Ferrum, Chinin und Belladonna mit nachfolgender Badecur in Landeck und Trinken von Eisenwasser. In dem zweiten Falle wurde bei einem blühenden, 42jährigen Kaufmanne die Zunge plötzlich mehreremale hintereinander mit grosser Gewalt aus dem Munde herausgeschnellt. In einem Falle von Dochmann0) geschah dies so heftig, dass Patientin Nachts dadurch aus dem Schlafe aufgeweckt wurde. Thomas6) beschreibt als krampfhaftes Verschlucken oder krampfhafte Retraction der Zunge eigenthümliche asthmatische Anfälle mit Sprachbehinderung, welche bei einer Dame dadurch hervorgebracht wurden, dass die vorher von Taubheitsgefühl befallene Zunge plötzlich rückwärts gezogen wurde. Vorwärtsziehen der Zunge erleichterte das Athmen, Chloroformeinathmungen lösten den Krampf. Nach längerem Brom kaliumgebrauch blieben die Anfälle ganz aus. Auch in dem Falle von Erlenmeyer wurde die Zunge zuerst etwas nach rückwärts gezogen, sodann aber kräftig nach vorn geworfen. Unter dem Gebrauche von Eisen und Brom hörte der Krampf mit dem Zurückgehen der Anämie auf. Einseitigen Krampf haben Wendt7) und Sepilli10) in je einem Falle beobachtet. In dem Falle von Wendt wurde der rechtsseitige klonisch-tonische Krampf durch galvanische Behandlung (eine Elektrode hinter dem Kieferwinkel, die andere längs des Zungenrandes) in 14 Sitzungen zur Heilung gebracht. Durchaus tonisch war der Krampf bei einer 56jährigen Kranken von F£re. 12) Der Unterkiefer wurde heftig nach links und unten gezogen (mit mehrmaliger Luxation) und die Zunge weit aus dem Munde herausgestossen. Dies konnte schliesslich nur dadurch verhindert werden, dass der Unterkiefer gegen den Oberkiefer durch Instrumente fest ange-presst gehalten wurde; bei Entfernung derselben trat der Krampf sofort wieder ein.

Als eigenartige Form krampfhafter Bewegungsstörung ist das Zittern der Zunge, Tremor linguae, zu betrachten, das am häufigsten bei nervös geschwächten (neurasthenischen) Individuen, sowie überhaupt als Theiler-scheinung allgemeiner Neurosen, ferner im Fieber, in der Inanition, bei anämischen und kachektischen, marastischen Personen, namentlich beim Hervorstrecken der Zunge aus der Mundhöhle beobachtet wird. Eigenthümliche choreatische Zungenbewegungen ? Hervorstossen und Zurückziehen der Zunge ? kommen als krankhafte Mitbewegung bei Chorea, anderweitige Formen in coordinirter Zungenbewegung und Contractur bei hysterischen und epileptischen Allgemeinkrämpfen vielfach zur Erscheinung. Endlich sind auch Beschäftigungskrämpfe der Zungenmusculatur (vergl. III, pag. 294) zu erwähnen.

Literatur:
1) Romberg, Lehrbuch der Nervenkrankheiten. I, pag. 387.
2) Ebb, Lehrbuch der peripheren cerebrospinalen Nerven. 2. Aufl., pag. 295.
3) Mischell, Med. -chir. Transact. IV, pag. 75.
4) O. Berger, Neurolog. Centralbl. 1882, Nr. 3.
5) Dochmann, Petersburger med. Wochenschr. 1883, 1.
6) Thomas, Med. news. 19. April 1884.
7) Wendt, Amer. Journ. of med. science. Januar 1885, CLXXVII, pag. 173.
8) Erlenmeyer, Centralblatt f. Nervenheilk. 1886, IX, Nr. 5.
9) Bernhardt, Ueber idiopathischen Zungenkrampi. Ibid. Nr. 11.
10) Sepilli, Riv. speriment. di Ireniatria. 1886, pag. 476.
11) Brugia und Matteuci, Archiv, ital. pelle mallatie nervöse. 1887, XXIV, pag. 58.
12) Fere, Neurolog. Centralbl. 1887, VI, pag. 287.
13) Lilienfeld, Deutsche med. Wochenschr. 1898, Nr. 18.
14) St. Bartholomew's Hospital Rep. XXXIV, pag. 309, IV (Deviation o! the tongue and soft palate etc.).
15) Van Vypen, Jornchy innervace jazykovci (Innervationsstörungen der Zunge). (Sbornik poliklinicky) 1898.

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