Zahnoperationen: Konservierende Behandlung

Heilkundelexikon

Zahnoperationen: Konservierende Behandlung


Die conservirende Behandlung von Zähnen mit erkrankter Pulpa und Wurzelhaut.
Noch in der vorigen Auflage dieses Werkes, also vor nur wenigen Jahren, wurde an Stelle dieses Capitels der Vermerk gebracht, dass auf diese Fälle nicht weiter einzugehen sei. Damals bildeten sie ein noli me tangere, wenn anders der Patient sich nicht zur Extraction entschloss.

Um vieles anders heute. In der rapiden Gesammtentwicklung der Zahnheilkunde während der letzten zwei Jahrzehnte ist es gerade dieser Abschnitt gewesen, welcher sich am allermeisten ausgebildet hat, so zwar, dass es uns heute fast unverständlich erscheint, dass noch vor so kurzer Zeit so mancher
Zahn der Zange zum Opfer fiel, der auf Grund unserer jetzigen Kenntnisse fast mühelos erhalten werden kann. Nicht nur für den Zahnarzt ist damit die Zeit vorüber, wo er es mit seinem Gewissen vereinbaren konnte, einen schmerzhaften Zahn sans facon zu extrahiren, sondern auch für den Arzt, und erscheint es aus diesem Grunde sehr angebracht, auch an dieser Stelle den einschlägigen Punkten die gebührende Würdigung zutheil werden zu lassen.

Wenn wir die Behandlung Jener Zähne besprechen wollen, deren Pulpa beim Fortschreiten des cariösen Processes schon mehr oder weniger in Mitleidenschaft gezogen wurde, so müssen wir zunächst jene Fälle berücksichtigen, wo die Pulpa noch nicht eigentlich erkrankt ist, wo aber die Ausläufer derselben (respective die Ausläufer der Odontoblasten), die Zahnbeinfasern, sich in einem anormalen gereizten Zustande befinden, jenen Zustand, den wir mit dem Namen des sensitiven Dentins belegen. Er ist es zumeist, welcher dem Patienten die Operation des Plombirens zu einer gefürchteten macht.

Wir beseitigen diese Empfindlichkeit am besten durch sorgfältige Austrocknung (Anlegen des Cofferdam, Auswaschen der Cavität mit Alkohol und nachherige Application heisser Luft); dadurch werden die Zahnbeinfasern ausgetrocknet und verlieren ihr Leitungsvermögen. Alle chemischen Agentien (Carbol, Chlorzink, Cocain etc.) wirken lange nicht so prompt.

Handelt es sich um sensitives Dentin an Stellen, wo ein eigentlicher Defect nicht vorhanden (freiliegende Zahnhälse, Partien, welchen Gebissklammern anliegen etc.), so behandelt man am besten mit Argent. nitr. in der Weise, dass man nach Trockenlegen der betreffenden Partie ein kleines Körnchen Höllenstein aufbringt und mit einem breiten Stopfer etc. gründlich in das Zahnbein verreibt; wenn man das Instrument ein klein wenig feucht macht, haftet das Körnchen sehr gut. Diese Methode giebt meist schon bei einmaliger Anwendung ausgezeichnete Resultate und hat nur den Nachtheil, das die betreffende Stelle schwarz wird, weshalb man bei Frontzähnen zu anderen Aetzmitteln (Carbol, Chlorzink) greifen muss.

In die Kategorie der Uebergangsstadien mag dann weiterhin noch eine andere Complication von Seiten der Pulpa gerechnet werden, wobei diese selbst auch nicht als erkrankt angesehen werden kann; der Fall nämlich, wo eine gesunde Pulpa beim Excaviren unbeabsichtigter oder unvorsichtiger Weise freigelegt wurde.

Einem erfahrenen Praktiker wird das nur selten passiren; dem Anfänger passirt es um so häufiger, wenn er sich noch nicht eine genaue Kenntniss der Anatomie dieser Theile angeeignet hat. Eine Pulpa unnötigerweise freigelegt zu haben, ist natürlich immer ein Kunst fehler, und erschwert oder verzögert ein solcher Zustand auf alle Fälle die Behandlung des betreffenden Zahnes. Aus Furcht, diesen Fehler zu begehen, verfällt deshalb der mit den Verhältnissen nicht Vertraute nur zu leicht in einen anderen, den nämlich, lieber eine grössere Menge weichen Dentins stehen zu lassen, als sich der Gefahr auszusetzen, die Pulpa freizulegen; er kommt damit aus dem Regen in die Traufe.

Für gewöhnlich gehen wir ja allerdings, wie wir früher sahen, von dem Grundsatze aus, dass es besser ist, über einer Pulpa, wenn sie sonstwie gesund, lieber eine dünne Schicht, sei es auch erweichten (nicht zerfallenen!) Dentins als Decke liegen zu lassen, anstatt sie frei zu legen und zu überkappen. Lässt man aber eine grosse Menge weichen Dentins zurück, welches sich nicht wie eine dünne Schichte ganz zuverlässig sterilisiren lässt, so wird natürlich die Zersetzung in dieser Dentinschicht weiter vor sich gehen und schliesslich zur Infection der Pulpa führen. Man soll also jedenfalls bis dicht an die Pulpa hin excaviren; hierbei die Gefabr des Freilegens zu vermeiden, erfordert dann allerdings, wie gesagt, etwas anatomische Kenntniss und praktische Erfahrung.

Jedenfalls muss man vor allem darauf Rücksicht nehmen, beim Freilegen der Pulpa eine Infection derselben hintanzuhalten. Principiell soll deshalb bei solchen Cavitäten, wo man annehmen muss, in die Nähe der Pulpa zu kommen, vor jeder weiteren Massnahme der Cofferdam angelegt und die Höhle dann, nach Entfernung der Speisereste und oberflächlichsten weichen Dentin schichten, erst einmal gründlich sterilisirt werden. Darauf excavirt man, am besten mit löffeiförmigen Instrumenten, zunächst die Ränder der Cavität und schabt dann die Partien über der Pulpengegend vorsichtig ab. Die Empfindlichkeit ist in allen solchen Cavitäten meist ziemlich gering, was auch erklärlich ist, da bei so weit vorgeschrittener Caries die Zahnbeinfibrillen schon abgestorben oder doch in ihrer Empfindlichkeit sehr herabgesetzt sind. Ist man in ziemliche Nähe der Pulpa gelangt, so bringt man, bevor man die letzten Schichten des cariösen Zahnbeins excavirt, erst ein Wattebäuschchen mit concentrirter Carbolsäure auf einige Minuten ein, beziehungsweise wischt die Höhle damit kräftig aus, um die in ihr enthaltenen Mikroorganismen, so weit es angeht wenigstens, abzutödten, beziehungsweise zu entfernen. So ziemlich alle Entzündungen der Pulpa sind septischer Natur, und unser Bestreben muss also sein, sie durch Beachtung antiseptischer Cautelen zu verhüten. Die letzten Schichten werden dann jedenfalls mit kleinen Löffeln entfernt, nicht mit spitzen Excavatoren, mit denen man leicht unbeabsichtigt in die Pulpa hineinsticht; zweckmässig ist es, hierbei Schicht um Schicht gleichsam leicht wegzuschaben, indem man dabei zeitweilig wieder ein Antisepticum aufbringt. Wird bei diesem Vorgehen die Pulpa wirklich freigelegt, so hat man es dann doch selten mit einer directen Verletzung derselben zu thun, wie bei Verwendung spitzer Excavatoren, mit denen man sehr leicht in das Pulpengewebe einsticht und dieses naturgemäss dabei stark inficirt. Wie soll man nun verfahren, wenn trotz aller Vorsicht beim Excaviren die sonst gesunde Pulpa freigelegt wurde?

Drei Punkte müssen wir hierbei besonders berücksichtigen: Eine Infection der freigelegten Pulpa durch Speichel, Mund schleim etc. muss unter allen Umständen verhütet werden. War also nicht schon vor Beginn des Excavirens (wie es hier stets der Fall sein sollte!) der Cofferdam angelegt worden, so muss es jetzt sofort geschehen; nur in Ausnahmefällen ist Trockenlegen durch ein kleines Tuch etc. genügend und erlaubt; müssen wir etwa eingebrachte Infectionskeime durch Anwendung eines geeigneten Antisepticums unschädlich zu machen suchen, um diese Keime nicht nachher unter der Kappe einzuschliessen. Hat eine Infection (Verletzung) der Pulpa nicht stattgefunden, wie wir es bei strenger Befolgung der vorhin besprochenen Methode des Excavirens ziemlich sicher annehmen dürfen, so ist natürlich eine Sterilisation der freigelegten Pulpa auch nicht
erforderlich, oder aber es genügt die Anwendung eines schwachen Antisepticums, um die eventuell mit den Instrumenten etc. doch auf die Pulpa gebrachten wenigen Keime zu vernichten; 3. muss die Ueberkappung sofort geschehen; man soll nicht die Oberfläche der Pulpa, die doch immerhin ein ziemlich zartes Gewebe repräsentirt, erst längere Zeit austrocknen lassen, was der Fall ist, wenn sie mit der Luft in Berührung bleibt, es bildet sich nothwendiger Weise ein Schorf, der dann später leicht reizend wirkt. Bevor man überkappt, muss man allerdings versuchen, die etwa auf der Pulpa oder bei einer Verletzung in diese hineingebrachten Keime zu vernichten und eventuell auch die Höhle zu sterilisiren.

Mit welchen Mitteln sollen wir diese Sterilisation anstreben? Man hat mit Recht gesagt, dass es nicht richtig sei, concentrirte Carbolsäure oder ähnliche stark ätzende Mittel aufzubringen, wie es so häufig geschieht. Bei der Zartheit des Pulpengewebes verursachen solche Mittel sicher immer und sofort einen Aetzschorf, der nachher dauernd reizend wirkt, weil er ja aus abgestorbenem Gewebe besteht und kaum je leicht resorbirt werden dürfte. Auf der anderen Seite verdient aber doch die Behauptung vieler Berücksichtigung, welche versichern, dass sie bei der Verwendung solcher Mittel in diesen Fällen bessere Resultate zu erzielen imstande seien, als bei Verwendung anderer (schwächerer) Antiseptica. Wir dürfen wohl annehmen, dass die Sache so liegt, dass wir unter gewöhnlichen Verhältnissen solche stark wirkende Mittel bei freigelegten Pulpen nicht in Anwendung zu bringen brauchen; lag eine starke Verletzung oder nachweisliche Infection nicht vor, so sind sie auch nicht erforderlich und wir erreichen unseren Zweck vollkommen auch mit schwächeren, nicht ätzenden Mitteln (3%iges Carbol oder Lysol, die ätherischen Oele, am besten Zimmtöl, vielleicht auch Nelkenöl oder dergl.). Haben wir es aber mit einem Fall zu thun, wo sicherlich eine starke Infection der Pulpa zustande gekommen ist, so müssen wir die stärkeren und stärksten Mittel anwenden; es ist schliesslich immer besser einen Aetzschorf als Bakterien auf der Pulpa zu haben; concentrirte Carbolsäure, concentrirtes Lysol, l%tees Sublimat etc. werden dann am Platze sein.

Eine Pulpa, die in einer fast fertig präparirten und sterilisirten Cavität gelegentlich des Anlegens der Haftpunkte oder Unterschnitte freigelegt wurde, wird, wenn die Instrumente rein waren, nicht viel Behandlung erfordern; verletzen wir aber eine Pulpa schwer, indem wir vielleicht mit der Sonde durch eine Schicht weichen (stark infectiösen!) Dentins hindurch in sie hineinstechen, so können wir sicher auf einen sehr unangenehmen Ausgang rechnen. Und doch, so klar dies auf der Hand liegt, so häufig und so schwer wird dagegen gefehlt, namentlich bei der Vorbehandlung des Zahnes. Wenn ein Patient mit einem stark cariösen Zahne kommt, so nehmen von 10 Praktikern gewiss fünf eine Sonde oder ein anderes spitziges Instrument und stossen damit in der Richtung nach der Pulpa in das weiche Dentin ein, um zu sehen, ob die Pulpa noch von einer Dentinschicht bedeckt ist oder nicht und darnach dann ihre Diagnose über deren muthmasslichen Zustand zu stellen. Es kann nichts Unvernünftigeres geben, als dieses Sondiren. Einmal ist es jedenfalls ganz und gar unnöthig, dem Patienten durch Einstechen der Sonde einen Schmerzanfall herbeizuführen, wie das nur zu häufig in solchen Fällen die Folge ist, wenn die empfindliche Pulpa nahe liegt, und dann giebt eine derartige Untersuchung so gut wie gar keinen Aufschluss. Es kann sehr wohl noch eine dünne Dentindecke über der Pulpa erhalten sein, die zwar der eindringenden Sonde gegenüber keinen Widerstand bietet, die aber doch mit recht grossem Vortheil noch als Schutzdecke der zu behandelnden Pulpa hätte dienen hönnen. Ist sie einmal durchstossen, so ist es mit der Verwendung in dieser Hinsicht vorbei, und wir haben von der ganzen Sondirung weiter nichts als den Nachtheil, aus einer nicht ganz freiliegenden
Pulpa, die nur eine ganz einfache Behandlung erfordert haben würde, eine freiliegende Palpa, nota bene mit einer durch das eingestochene Instrument hervorgerufenen Infection gemacht zu haben, einen Zustand, der dann jedenfalls öine recht viel ungünstigere Prognose giebt. Die Untersuchung auf eine freiliegende Pulpa soll immer erst dann vorgenommen werden, wenn die Cavität soweit fertig präparirt ist.

Womit sollen wir überkappen?

Die mannigfachsten Substanzen sind hierfür empfohlen worden: Chlor-zinkcement, Phosphatcement, Guttapercha, gummirtes Papier, Englischpflaster, Eiweisshaut, kleine Kappen aus Metall, eventuell ausgefüllt mit einer antiseptischen Pasta (namentlich Jodoformpasta), Asbestpappe mit Antisepticis getränkt u. s. w. Heutzutage wird fast nur mehr mit Fletcher's Cement (Fletcher's artificial dentine) überkappt.

Wir brauchen zum Ueberkappen eine Substanz, die: nicht reizt; sich sehr genau der Oberfläche der Pulpa adaptirt; ohne jeden Druck eingeführt werden kann.

Alle diese Bedingungen erfüllt Fletcher's Cement vollkommen; auch einem eventuell noch zu verlangenden vierten Erforderniss: dass das Ueber-kappungsmaterial eine schwach antiseptische Eigenschaft besitze, wird es leicht gerecht, wenn wir ihm beim Anrühren eine geringe Quantität eines geeigneten Antisepticums zusetzen, was seine sonstigen Eigenschaften durchaus nicht beeinträchtigt. Uebrigens enthält es auch schon normaliter etwas Carbol.

Die Technik der Ueberkappung mit Pletscher wurde früher (pag. 345) beschrieben; man darf nicht zu viel aufbringen, nur etwa eine Quantität von Stecknadelkopfgrösse, sonst fliesst es meist nicht ordentlich auseinander und haftet schlecht,, Durchaus verkehrt ist es, die halbe Höhle damit auszustopfen und das Ueberschüssige dann wieder herauskratzen zu wollen; meist geht dabei alles wieder heraus. Das Präparat darf, will man gute Resultate erzielen, nicht zu alt sein, immerhin hält es sich bei sorgfältigem Verschluss recht lange Zeit; ist das Präparat vorschriftsmässig, so wird die Kappe in 2?3 Minuten vollkommen hart und kann man dann mit dem Einlegen der Füllung selbst weiter fortschreiten.

Womit der
Zahn nach der Ueberkappung der freiliegenden Pulpa am besten gefüllt wird, hängt vor allem davon ab, in welchem Zustande sich die Pulpa befand. War die Verletzung derselben nur gering und lag keine starke Infection vor, so dass wir wohl hoffen dürfen, dass alles gut gehen, d. h. keine Reizung der Pulpa eintreten wird, so können wir mit Phosphatcement füllen oder auch eine Schicht Phosphatcement über die Fletcher-cementkappe legen und mit Gold oder Zinngold beenden. (Gold direct auf Fletchercement zu füllen ist nicht angängig, weil das Material zu weich ist und immer etwas schmiert:) Auch eine Amalgamfüllung kann am Platze sein; für dieses Material ist dann eine Decke aus Phosphatcement nicht erforderlich, es genügt vielmehr, die Fletchercementkappe durch eine nachher eingebrachte zweite, dickere Schichte desselben Materiales zu verstärken, um Störungen bei Temperaturwechsel etc. abzuhalten. Sind wir im Zweifel, ob die Behandlung ganz gelungen war, oder ob nicht vielleicht nachträglich eine Entzündung der Pulpa eintreten könnte (so namentlich, wenn eine starke Verletzung und Infection vorlag), so ist es immer besser, den Zahn nicht gleich permanent zu füllen, sondern vorerst nur provisorisch zu ver-schliessen. Guttapercha ist hier das beste Füllungsmaterial, eventuell auch Phosphatcement, welches sich ja im Nothfali auch nicht allzuschwer entfernen lässt. Können wir ziemlich sicher auf das Eintreten reactiver Erscheinungen rechnen, so ist eine provisorische Füllung natürlich nicht mehr blosse Vorsichtsmassregel, sondern directe Bedingung.

An dieser Stelle mag noch der Anwendung des Jodoforms zur Behandlung freigelegter (entzündeter und nicht entzündeter) Pulpen gedacht werden, wie sie zur Blüthezeit dieses Mittels so eifrig empfohlen wurde. Man brachte Jodoform in Form von Pulver oder häufiger als Pasta (mit ätherischen Oelen etc. vermengt), eventuell unter Benutzung der oben erwähnten kleinen Metallkapseln auf und erzielte angeblich die schönsten Erfolge damit.

Zahlreiche Versuche in Laboratorien haben inzwischen zur Genüge festgestellt, dass Jodoform für unsere Zwecke, d. h. zur Behandlung von Zahnpulpen, eigentlich recht wenig geeignet ist, und auch die Erfahrungen in der Praxis stimmen damit überein, so dass jetzt Jodoform in der Zahnheilkunde kaum noch gebraucht wird. Man hat einsehen gelernt, dass das Mittel wohl für freiliegende Wundflächen, wo es in grösseren Quantitäten verwendet und leicht resorbirt werden kann, ein sehr schätzenswerthes Antisepticum ist, sich also eventuell zur Behandlung breit, freiliegender, eventuell chronisch entzündeter Pulpenflächen eignen würde; bei kranken Pulpen, die ganz wenig freiliegen, wo also nur geringe Mengen in unvollkommener Weise auf sehr kleine Gewebspartien einzuwirken imstande sind, dürfte es die einstmals von ihm erhoffte Wirkung kaum zu äussern imstande sein.

Die erste in der Reihe der eigentlichen krankhaften Veränderungen der Pulpa ist die Hyperämie derselben, der Zustand also, wo äussere Reize eine Ueberfüllung des Gefässsystems verursacht haben und Schmerzen zwar nicht spontan, sondern nur bei Temperaturwechsel, Genuss süsser oder saurer Sachen etc. eintreten, um nach 1?2 Minuten wieder zu schwinden. Für den Zweck des sofortigen Füllens bildet auch die Hyperämie keine Contraindication, d. h. wir können solche Zähne ruhig füllen, nur ist es dabei nothwendig, bei Verwendung von Metallfüllungen (Gold, Zinngold, Amalgam) einen Nichtwärmeleiter (Guttapercha, Fletchercement, Phosphatcement) unterzubringen. Die Hyperämie schwindet dann von selbst. Eventuell kann man solche Zähne natürlich auch für einige Wochen oder Monate provisorisch füllen, bis die Pulpa wieder normal geworden und dann erst die provisorische Füllung durch eine definitive ersetzen.

Die Charakteristica der Entzündung der Pulpa und die allgemein massgebenden Gesichtspunkte für die Behandlung derselben sind an anderer Stelle (cf. Art. Pulpitis) schon gewürdigt worden und können wir uns hier deshalb kurz fassen.

In praxi werden wir uns zur Behandlung pulpakranker Zähne für gewöhnlich etwa wie folgt stellen. Kommt ein Patient mit einem
Zahn, der ihm wohl zuweilen Schmerzen gemacht hat, die aber nicht längere Zeit als einige Minuten oder eine Viertelstunde anhielten, so werden wir versuchen, die Pulpa zu erhalten, da wir dann unseren früheren Ausführungen nach nur auf das Vorliegen einer acuten partiellen Entzündung der Pulpa zu schliessen brauchen. Hat ihm aber der Zahn schon längere Zeit starke Schmerzen, namentlich in der Nacht, bereitet, so werden wir einen Versuch der Erhaltung der Pulpa nie machen, da er doch unter allen Umständen aussichtslos ist, sondern die Pulpa abtödten.

Die erste Behandlung des Zahnes ist in beiden Fällen die gleiche: Anlegen des Cofferdam, vorsichtiges Excaviren der Ränder der Höhle, Abschaben der letzten Dentin schichten über der Pulpa, Auswaschen der Höhle mit concentrirtem (etwas erwärmtem !) Carbol. Von hier an ist dann die Behandlung etwas verschieden, Je nachdem die Absicht vorliegt, die Pulpa zu erhalten oder abzutödten (s. später).

Soll der Versuch gemacht werden, sie zu erhalten, so wird nur ganz vorsichtig mit kleinen Löffeln weiter excavirtjund möglichst eine dünne Schicht weichen Dentins über der Pulpa erhalten, dann ein Antisepticum (Wattebäuschohen mit concentrirtem Carbol, Lysol etc.) aufgelegt, der Zahn m der früher (pag. 346) beschriebenen Weise mit Fletchercement verschlossen und Patient zum nächsten Tag, respective nach zwei bis drei Tagen wiederbestellt. Ist der Zahn dann vollkommen schmerzfrei (was der Fall ist, wenn die Diagnose auf acute partielle Entzündung richtig war), so wird er weiter behandelt wie ein solcher mit hyperämischer Pulpa, nachdem wir zuvor nochmals mit Carbol ausgewischt und dann eine dünne Lage Fletchercement über die ja sehr naheliegende Pulpa gebracht haben, um diese etwas mehr zu schützen. Dann Ueberlegen eines Nicht Wärmeleiters und der eigentlichen Füllung wie bei Hyperämie der Pulpa.

Es soll hier gleich nochmals auf die unumgängliche Notwendigkeit verwiesen werden, alle Pulpenbehandlungen nur unter Cofferdam zumachen; der Cofferdam muss namentlich auch immer erst angelegt werden, bevor man in der zweiten und folgenden Sitzung die Carboleinlage etc. wieder entfernt, damit nicht erst wieder Speichel etc. (Infectionskeime) an die Pulpa herankommen.

Ist der Zahn nach der ersten Einlage nicht absolut schmerzfrei, so steht man am besten von jedem weiteren Versuch der Erhaltung der Pulpa ab, da dann sicher schon ein mehr vorgeschrittenes Stadium der Entzündung vorliegt, sondern schreitet zur Abtödtung.

Wie schon bemerkt, werden wir letztere auch immer dann gleich vornehmen, wenn die Diagnose vorher auf stärkere (totale) Entzündung gestellt war, der Patient also schon anhaltende Schmerzen hatte, und weiterhin auch dann, wenn beim Excaviren der Höhle sich herausstellte, dass die Pulpa so wie so schon weit freiliegt, nicht also erst hierbei nur in geringer Ausdehnung freigelegt wurde; denn wir müssen als sicher annehmen, dass, wenn eine Pulpa einige Zeit in einer cariösen Höhle exponirt war, sie sicher auch nicht mehr gesund, sondern entzündlich (eiterig) verändert ist. Es kommen solche Fälle häufig genug vor, wo Patient angiebt, nur dann und wann Schmerzen am Zahn zu haben, wir bei der Untersuchung aber eine breit freiliegende Pulpa finden; der Patient hat dann vergessen, dass er vor Monaten stärkere Schmerzen am Zahn hatte, welche allmählich aber geringer wurden, weil jetzt eine weniger schmerzhafte chronische Entzündungsform vorliegt.

So werden wir also scheinbar nur in sehr wenigen Fällen dazu kommen, eine Pulpa conserviren zu können, da mit Ausnahme der Pulpitis acuta par-tiaiis und eventuell septica ja alle Formen der Entzündung der Pulpa eine Abtödtung derselben verlangen. Ganz so ungünstig stellt sich das Verhält-niss in der Praxis, wenigstens in der besseren, nun doch nicht, hauptsächlich deshalb, weil die meisten Patienten doch schon dann kommen, wenn der Zahn erst anfängt zu schmerzen, also noch eine beginnende Pulpitis vorliegt, die dann eine conservirende Behandlung gestattet. In vielen Fällen wird allerdings unsere Hilfe erst zu spät aufgesucht.


Hinweis:
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem Text auf dieser Seite um einen Auszug aus einem über hundert Jahre alten Fachbuch der Medizin handelt.
So entsprechen vor allem die genannten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen nicht dem aktuellen Stand der Medizin, die Anwendung kann nicht nur die Diagnose einer Erkrankung verzögern, sondern auch direkt den Körper schädigen.

Hinweis: Der Text auf dieser Seite entstammt einem über einhundert Jahre alten Fachbuch. Daher entsprechen die gemachten Angaben nicht dem aktuellen Stand der Wissenschaft. Verwenden Sie niemals die angegebenen Rezepturen und Heilmethoden, da sie gesundheitsgefährdend seien können.