Wirbelverletzungen: Frakturen

Heilkundelexikon

Wirbelverletzungen: Frakturen


Die Fracturen sind, den übrigen Knochenbrüchen entgegengehalten, seltene Vorkommnisse. Die untersten Halswirbel und die obersten Lendenwirbel brechen relativ am häufigsten. Man unterscheidet Fracturen der
Fig. 8 und 9.
Fig. 8 und 9.

Wirbelkörper, der Bögen, der Gelenkfortsätze und der Stacheln. Am ehesten brechen die Wirbelkörper und von diesen wieder am häufigsten die der massigen unteren Wirbel; die Bögen wiederum brechen am ehesten im Halssegment. Der näheren Form nach unterscheidet man Fissuren, Infractionen, Compressionsfracturen (Fig. 8 und9). Die mit bedeutender Dislocation einhergehenden Fracturen kann man auch als Verrenkungsbrüche bezeichnen. Wie durch dislocirte Fragmente das Rückenmark comprimirt, oder gespiesst, gequetscht, ja gänzlich zermalmt werden kann, ist ohne- weiteres einleuchtend; häufig beruht die Compression des Marks auf einem gleichzeitigen Blutextravasat. Da die Körperfracturen häufiger sind als die Bogenfracturen, so wird die Compression der Vorderstränge häufiger sein, daher Motilitätsstörungen häufiger als jene der Sensibilität. Durch Fractur der obersten Halswirbel und Compression der Oblongata kann auch rasch letaler Ausgang bewirkt werden; doch ist auffälliger Weise eine grössere Zahl von Fällen constatirt, wo der Zahnfortsatz allein, oder gleichzeitig mit dem Bogen des Atlas oder des Epistropheus gebrochen war, ohne dass die Oblongata comprimirt worden wäre. Was nun die übrigen Segmente be-trifft, so wird beim Bruch im Bereiche des 3. und 4. Halswirbels der Phre-nicus, beim Bruch in den unteren Halswirbeln der Plexus brachialis
gefährdet, so dass Lähmungs- oder auch Reizungserscheinungen (Hyperästhesien* Krämpfe) erscheinen können, ohne dass das Mark selbst verletzt wäre' Ganz bemerkenswerth sind die bei Brüchen der unteren Halswirbel beob-achteten vasomotorischen Störungen und die mitunter beobachteten enormen Temperatursteigerungen. Den ersteren wird neuerer Zeit die Schuld an der Bildung von Nierensteinen zugeschrieben, welche wiederholt nach Ver-letzungen der Wirbelsäule beobachtet wurden. Schwere parenchymatöse Degeneration, Abstossung der Epithelien, Sedimentirung derselben sollen die Steinbildung einleiten. Viel bedeutsamer noch ist bei Fracturen der Wirbel-säule das häufige Auftreten von acutem Decubitus, wohl immer durch Läsion des Rückenmarks bedingt. Er ist es, der die Prognose der Verletzung ausserordentlich trübt und dem bei der Behandlung dauernd die grösste Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Ein Reinigungsbad soll auch bei schwerer Verletzten, vor der ersten Lagerung im Bette nicht unterlassen werden. Natürlich darf der Kranke im Bade nicht sitzen, sondern muss liegen. Weil in der sitzenden Stellung die Wirbelsäule einknickt, also die für das Rückenmark gefährlichste Verschiebung erfolgt, kann man den Verletzten auch nicht im Wasserbette behandeln. Am besten lagert man ihn auf ein Wasserkissen, nachdem man die dem Druck zumeist ausgesetzten Punkte (Kreuzbein, Fersen, Waden, Trochanteren, Ellbogen, Knie) mit Salben und Pflastern bedeckt hat. Bei Incontinenz steigern sich, die Schwierigkeiten. Opium wird durch 2?3 Tage die Reinigung des Kranken seltener erforderlich machen. Doch beuge man dann durch Irrigation der Obstipation, welche zu Druck-brand im Darme führen kann, rechtzeitig vor. Der Penis, der in die Flasche hängt, die Urethralmündung, die vom Katheter gedrückt wird, sind sehr der Gefahr des Decubitus ausgesetzt. Auch in der Nachbehandlung kann noch Decubitus durch unvorsichtige Massage hervorgerufen werden. Eigentümlich für die Wirbelfracturen ist die Seltenheit einer soliden Callusbildung; die Vereinigung erfolgt in der Regel bändrig oder knorpelig, häufig treten auch bei subcutanen Fracturen Nekrosirungen einzelner Fragmente und Bildung von Abscessen, ferner deformirende Entzündung an den Gelenken ein. Die Behandlung der Wirbelfracturen ist eine schwierige Aufgabe der Chirurgie. Wo ein Druck auf das Rückenmark angenommen werden muss, wäre wohl nichts klarer, als die Indication, den Druck zu beseitigen, insbesondere wenn er durch Dislocation der Fragmente bedingt ist, und selbst wenn er durch das Extravasat hervorgebracht würde, dürfte die Indication zur Beseitigung desselben unangefochten sein. Im ersteren Falle wäre die Einrichtung, im letzteren Falle die baldige Aufsaugung des Extravasates anzustreben. Was nun die Einrichtung betrifft, so ist es leicht einzusehen, dass die meisten Chirurgen vor jeder Gewaltanwendung zurückscheuten in der erklärlichen Besorgniss, vielleicht eine noch stärkere Läsion des Marks herbeizuführen. Diese Gefahr ist, wie die Erfahrung gelehrt hat, nicht so gross, und es werden jetzt bei etwas stärkeren Verschiebungen der Bruchstücke Einrich-tungsversuche nicht zu unterlassen sein. Wenn zwei Gehilfen den Kranken der Länge nach strecken und der Chirurg mit der aufgelegten Hand den Buckel eindrückt, so wird, insbesondere wenn man ohne Narkose arbeitet, die Gefahr sehr gering sein. Der Erfolg ist aber oft mit geringer Gewalt erreichbar. Fast möchte man die Alten bewundern, wenn sie (Paulus von Aegina) vorschlagen, Knochensplitter, die auf das Rückenmark drücken, zu exstirpiren. Ein Aufsuchen der drückenden Knochen, eine Entfernung derselben ist jedenfalls ein klares, sicheres Verfahren. Henry Cline, der Lehrer A. Cooper's, wendete das Verfahren an, welches von Cooper in der energischsten Weise vertheidigt wurde. Gurlt sammelte 21 Fälle, wo die Ope-ration ausgeführt wurde. 17mal trat der letale Ausgang ein; in den vier überlebenden Fällen war keine Restitutio ad integrum eingetreten. Dennoch dürfte die Antisepsis Operationen dieser Art neuerdings befördern. Auf meiner Klinik führte Prof. Maydl, als er noch Assistent war, die Operation in einem Falle aus, wo sich das Rückenmark als vollständig durchquetscht herausstellte, also ein Erfolg nicht möglich war; aber der Wundverlauf zeigte, dass man heutzutage die Operation häufiger ausführen könnte.

Immerhin darf man die Vortheile des operativen Verfahrens nicht überschätzen und seine Indication nicht zu oft stellen. Eine Zerstreuung der Knochensplitter mit Verlagerung ins Rückenmark wird durch das Lig. longi-tudinale post. fast immer verhindert. Sobald dieses Band durch Streckung der
Wirbelsäule gespannt wird, drängt es die Bruchstücke zusammen und gleicht jenen First, über welchen das Rückenmark »wie die Violinsaite über den Steg« zieht, aus. Aber auch die Blutungen sind wegen der schweren Zugänglichkeit und Erkennbarkeit (intraraedulläre Hämatome) sowie der Multiplicität chirurgisch schwer und nur unsicher zu behandeln. So bleibt bei ruhiger Kritik und in Erwägung der Gefahr der Operation und ihrer späteren Nachtheile die Indication zu derselben beschränkt auf manche Stich- und Schussverletzungen und die durch unmittelbare Gewaltwirkung entstehenden Bogenbrüche mit Impression. Gleichzeitige Verletzung der Haut wird den Entschluss zum Einschneiden erleichtern. Wo man aber gänzliche Zerstörung des Rückenmarks aus der erheblichen Verschiebung der Bruch-stücke sofort erkennen, oder wegen des Ausbleibens jeder Aenderung selbst nach 1?2wöchentlicher Beobachtung erschliessen kann, da lasse man den armen Kranken ohne Operation seinem unabwendbaren Ende entgegengehen. Die nicht operative Behandlung wird sich, wenn keine Einrichtungsversuche nothwendig sind, vor allem auf sorgfältige horizontale Lagerung und bei unruhigen, also nicht gelähmten Kranken, auf Extensionsbehandlung be-schränken müssen. Dieser Behelf wird insbesondere dann sehr am Platze sein, wenn die Fractur so wenig Symptome macht, dass der Kranke von der Schwere seiner Verletzung nicht leicht zu überzeugen ist. Da es nun vorkommt, dass Brüche der Wirbelsäule nicht einmal das Gehen unmöglich machen, so kann die Diagnose, falls auch spinale Symptome fehlen, manch-mal falsch gestellt werden, oder weil kein Arzt gerufen wird, auch gar nicht in Betracht kommen. Später entwickelt sich manchmal ein Buckel, den niemand erklären kann. So entsteht jenes Krankheitsbild, das Kümmel ursprünglich als Ostitis beschrieb. Dem Zeitraum, in welchem Schmerzen durch das Trauma hervorgerufen werden und welcher manchmal nur Tage dauert, folgt ein zweiter ohne Schmerzen von der Dauer weniger Wochen oder mehrerer Monate. Nach diesem treten neuerdings Schmerzen in den Beinen und den Intercostalnerven auf. Gleichzeitig bildet sich ein Buckel aus, welcher durch Suspension ausgleichbar und auf Druck schmerzhaft ist. Die spinalen Erscheinungen, die sich dabei einstellen, können sich bis zur Paraplegie und Sphinkterenlähmung steigern. Die Krankheit befällt fast nur die Brustwirbelsäule. Die Prognose ist zumeist günstig. Unter Bettruhe, Extension und Behandlung mit Stützcorsetten kommt im Laufe von Monaten Heilung zustande.


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