Vulva: Vaginismus

Heilkundelexikon

Vulva: Vaginismus


Vaginismus ist die von Marion Sims1) eingeführte Bezeichnung für einen schon früher bekannten Symptomencomplex, bestehend in einem Reflexkrampf der Ring- musculatur der Scheide ?Constrictor cunni undLevator ani (Hildebrandt2), allmählich auch derjenigen des Beckenbodens ?Transversus perinei, Sphincter ani, der Muskelfasern der Harnröhre, ja selbst der Adductoren der Ober schenkel und der Rückenmuskeln. Ausgelöst wird dieser Krampf durch eine Berührung des meist hyperästhetischen Introitus, der dabei mit oder ohne Veränderung sein kann. Man muss nach Olshausen3) von dieser Affection die bei jung verheirateten Frauen häufige Hyperaesthesia vaginae trennen, bei deren höchstem Grade es allerdings zum Vaginismus, d. h. einem bei jeder Berührung entstehenden, schmerzhaften Krampf der Muskeln des Beckenbodens und des Ostium vaginae kommt. Es ist ferner zwischen symptomatischem, heilbarem und idiopathischem, oft als locale Hysteroneurose« unheilbarem Vaginismus (Fritsch4) zu unter scheiden, bei dem jede Empfindlichkeit oder Entzündung des Scheidenein ganges fehlt.

Die Ursache zu dem symptomatischen Vaginismus liegt zumeist in einer ungeschickten Ausübung des Coitus durch Jungverheiratete. Begün stigt wird die Entstehung der Affection durch eine nervöse Disposition infolge früherer sexueller Reize (Masturbation) und durch vorhandene ent zündliche Veränderungen bei gonorrhoischer Infection. Prädisponirend wirkt ferner eine Lage der Vulva abnorm weit nach vorn (Schröder2), so dass dieselbe zum Theil auf der Symphyse aufliegt und zwischen dem Scham bogen und dem Frenulum nur eine ganz enge Spalte bleibt. Bei so wenig zugänglicher Scheide bohrt sich der Penis leicht in die Fossa navicularis ein, oder er drängt den Harnröhrenwulst gegen die Symphyse und erweitert allmählich das Anfangsstück der Harnröhre, was nur unter grossen Schmerzen geschehen kann. Kommt hierzu noch ein sehr dickes fleischiges Hymen oder geringe Potenz des Mannes, so ist es leicht verständlich, dass durch
die häufig wiederholten fruchtlosen Versuche eine allmählich wachsende Empfindlichkeit des Introitus, verbunden mit Excoriationen, Fissuren hervor gerufen wird. Dieselben sitzen oft an der Fossa navicularis oder am Hymen und seinen Resten, oft auch hinter demselben. Chrobak5) beobachtete bei einer sechs Jahre verheirateten Frau, welcher wegen Vaginismus ohne Er folg das Hymen excidirt worden war, grosse Schmerzhaftigkeit der vorder sten Partie des Urethralwulstes, dessen Berührung krampfhafte Contractionen auslöste, und als Grund dieser Hyperästhesie drei feine, eiternde (Staphylokokken) paraurethrale Gänge, nach deren Spaltung und Aetzung die Empfindlichkeit aufhörte. Noch andere sahen von Carunkeln der Harn röhre und von Fissura ani Scheidenreflexkrämpfe ausgehen. Bei längerem Bestehen des Vaginismus tritt allgemeine Nervosität hinzu. Sterilität ist bei der Unmöglichkeit des Beischlafes die fast ausnahmslose Folge; diese letzteren beiden Functionsstörungen führen die Kranken, meist nach längerer Zeit, auch zum Arzt. Indessen sind Fälle von nur zeitweisem Auftreten des Vaginismus bekannt, in denen Conception erfolgte; oder es gelang dem Manne einmal, das Hymen zu überwinden, Conception erfolgte sofort, aber die dauernde Beseitigung des Hindernisses gelingt nicht (Veit, 1. c. pag. 207).

Ja sogar während der Schwangerschaft und bei der Geburt kann Vaginismus auftreten, zuweilen auch nach der ersten Entbindung durch zu frühe oder zu häufige Reizung der leicht verletzlichen postpuerperalen Vulvarschleimhaut oder durch Wiedereintritt der vor der Schwangerschaft bestandenen Hyperästhesie. Allerdings führt in der überwiegenden Mehr zahl der Fälle Eintritt von Gravidität zur Heilung des Vaginismus. Benicke6) beobachtete einen Fall, wo trotz hochgradigen Vaginismus Conception er folgte und bei der Geburt durch den herabrückenden Schädel die Krämpfe der Beckenbodenmusculatur in so intensivem Masse ausgelöst wurden, dass bei der ersten Entbindung die Kraniotomie und bei der zweiten die An legung der
Zange nothwendig wurden. Aehnliches berichtet Konrad. 7) Hildebrandt, Fritsch u. a. berichten über Fälle von isolirtem Krampf des Levator ani während der Cohabitation, durch den der Penis krampfhaft umschnürt und in der Scheide festgehalten wurde, so dass seine Befreiung nur in Narkose möglich war (Penis captivus).

Die Diagnose muss zunächst zwischen blosser Hyperästhesie und wahrem Vaginismus unterscheiden; ist der letztere vorhanden, so wird in halber Narkose bei Berührung der empfindlichen Stellen der Vulva oder des Introitus sofort der nicht zu verkennende Reflexkrampf eintreten. In tiefer Narkose ist dann die Beschaffenheit des Hymen, der Vulvar-und Vaginalschleimhaut und der angrenzenden Partien zu untersuchen und eventuell gleich die nöthige Therapie anzuschliessen. Diese erzielt bei folgsamen Kranken in der Regel in 1 ?2 Monaten Heilung (Olshausen, 1. c). Doch giebt es Fälle, besonders bei Impotenz des Ehemannes oder schwerer Hysterie, wo eine Besserung schwer, ja unmöglich ist und die Hyperästhesie nebst Reflexkrampf selbst nach Schwangerschaft und Wochenbett immer wiederkehrt.

Die Behandlung hat zunächst den Coitus zu untersagen, durch dessen Unterlassung etwaige Fissuren von selbst heilen, sowie eine vorhandene, zu Entzündungserscheinungen in der Vulva führende Gonorrhoe zu beseitigen. Alsdann muss der Hymenring so erweitert werden, dass die Scheide be quem zugänglich ist (J. Veit, 1. c. pag. 210). Dazu genügt die sich auch auf den Beckenboden erstreckende starke Dehnung desselben in tiefer Narkose. Man führt zunächst einen, dann den zweiten Daumen in die Vulva ein, setzt die übrigen Finger nach aussen in die Trochanterengegend ein, zieht nun mit einer gewissen Kraft die hintere Commissur stark nach hinten, gegen den After hin und hält den Introitus kurze Zeit auseinandergezerrt. Der Hymenalriss nach hinten blutet wenig, während solche im vorderen Theil, in der Nähe der Clitoris, zu lebensgefährlichen Blutungen führen können (Fritsch, 1. c. pag. 105). Ein eingeölter Jodoformgazetampon hält die Vulva offen. Die sehr wichtige Nachbehandlung muss die Scheidener weiterung erhalten ucd der Patientin die Ueberzeugung beibringen, dass Schmerzen in der Vulva nicht mehr vorhanden sind, und dass der Coitus ohne Furcht vor Krampf von ihr ausgeführt werden kann. Dies erreicht man durch eine sehr vorsichtige, mit Hilfe von Cocainsalben (1: 15) langsam ansteigende Dilatation der Vulva durch Specula oder glatte, konische Hart- gummidilatatoren, die durch T-Binden befestigt, circa 1 Stunde liegen bleiben und die sich später die Kranken selbst einführen, erst mit, dann ohne Cocain.

Wenn das letztere leicht und ohne Schmerzen möglich, ist auch die Furcht der Kranken vor dem Krampf beseitigt und der Coitus nach Instruction der Gatten zu erlauben. Diese Dehnungsmethode wird jetzt vielfach der SiMS'schen Excision des Hymen oder auch dessen Incision vorgezogen, da nach beiden zuweilen recht empfindliche Narben und Verengerung statt Er weiterung des Introitus zurückbleiben. Will man bei fleischig verdicktem und nicht deflorirtem Hymen oder bei hochgradiger Empfindlichkeit der Hymenalreste die Excision machen, so wird das Hymen mit einem feinen Messer oder einer CooPER'schen Schere, von einer Seite des Orific. urethrae be ginnend, an seiner Basis vollständig bis zur anderen Seite der urethralen Mündung abgetragen und die Wundfläche durch radiär zur Vulva gestellte feine Catgutnähte vereinigt.

Um einer narbigen Retraction der Vulva durch die Excision vorzu beugen, zerschneiden Veit (1. c. pag. 211) und Pozzi8) bei echtem Vaginismus nicht nur das Hymen bilateral, sondern Veit auch den ganzen Constrictor cunni mit nachfolgender oberflächlicher und tiefer Naht der Vulva und halten gerade dadurch die oben geschilderte Nachbehandlung, auf die das Haupt gewicht gelegt wird, für wesentlich erleichtert.

Bei rein hysterischem Vaginismus muss durch allgemeine, gegen die psychische Erkrankung gerichtete Mittel und durch psychische Beeinflussung (Suggestion) die nervöse Reizbarkeit herabgesetzt werden; der Erfolg der Behandlung ist hier ein sehr zweifelhafter.

Literatur: 1) Marion Sims, Klinik der Gebäimutterchirurgie. Deutsch von Beigel. 2. Aufl. 1870, pag. 253. Die neuere Literatur grossentheils in Veit, Handbuch der Gyn. 1898, III, 1. Hälfte, pag. 202 (Vaginismus von J. Veit). ?2) Hildebrandt, Ueber Krampf des Levator ani beim Coitus. Arch. f. Gyn. III, pag. 221. ?3) Olshausen, Beitrag zur Lehre von den Neurosen der weiblichen Genitalorgane. Zeitschr. f. Gebartsh. und Gyn. XXII, pag. 427. ?4) Fritsch, Die Krankheiten der Frauen. 9. Aufl. 1900, pag. 103. ?5) Chro- bak, Geburtsh. -gynäkol. Gesellschaft zu Wien. Sitzung vom 19. April 1898. Ref. im Cen- tralblatt f. Gyn. 1898, pag. 726. ?6) Benicke, Ueber Geburtsstörungen durch die weichen Geburtswege. Zeitschr. f. Geburtsh. und Gyn. 1878, II, pag. 262. ?7) Konrad, Citat bei Veit, pag. 208. ?8) Pozzi, Lehrbuch der Gynäkologie. Deutsch von Ringler. 1892, III, pag. 999.


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