Vulva: Pruritus vulvae

Heilkundelexikon

Vulva: Pruritus vulvae


Pruritus vulvae, Vulvitis pruriginosa (Sänger1) ist die Bezeichnung für einen chronischen Reizungszustand der Vulva, der sich durch eine Empfindung des Brennens und Juckens an den äusseren Genitalien, in der Gegend der Clitoris, Labia majora, seltener des Mons veneris, zuweilen auch in der Vagina, kennzeichnet. Die Ursachen dieses juckenden Gefühls wurden einmal in allerlei corrodirenden Ausflüssen des Genitalschlauchs, ferner in acuten mykotischen Affectionen der Vuiva und Vagina, endlich im Diabetes mellitus gefunden (symptomatischer Pru ritus); in anderen, besonders hartnäckigen Fällen aber, wo der Juckreiz ohne irgend eine der erwähnten Ursachen und unabhängig von einer örtlich erkennbaren Erkrankung der Vulva auftritt, besonders gern bei Frauen im klimakterischen Alter und mit starker Fettleibigkeit, wurde derselbe durch die Annahme einer Neurose oder einer allgemeinen Blutkrankheit erklärt und essentieller Pruritus genannt (Olshausen2).

Dieser auch heute noch weit verbreiteten Auffassung gegenüber leugnen Sänger und Veit3) einen essentiellen Pruritus; besonders des letzteren Auf fassung der Affection zeichnet sich durch folgerichtige und einheitliche Berücksichtigung aller anatomischen und klinischen Momente aus. Nach J. Veit ist »Pruritus vulvae ein Symptom der verschiedensten Krankheiten, die durch die chemische Veränderung der durch die Harnwege, den Darmcanal oder die Scheide (wahrscheinlich auch durch die Haut, Verf.) ausgeschiedenen Secrete local auf die Haut der Vulva einwirken; durch das Jucken entsteht Kratzen, durch das Kratzen eine locale Veränderung der schon widerstandsunfähigen Haut. Doch ist diese letztere Nebensache und eine rein consecutive Erscheinung.«

Die Specificirung dieser allgemein gehaltenen ätiologischen Momente ergiebt folgende Einzelursachen des Pruritus:

Alle mechanischen oder infectiösen Reizungen der Vulva, sei es durch Masturbation oder Excesse in coitu oder durch einen infectiösen oder ein fachen Katarrh der Scheide, der Cervix oder des Corpus uteri. Auch vor, während und nach der Menstruation können sich die Uterus- secrete so verändern (z. B. durch Verschlimmerung eines sonst latenten Corpuskatarrhs), dass durch ihren örtlichen Reiz nur zu dieser Zeit Pruritus ausgelöst wird; ebenso in der Schwangerschaft und im
Wochenbett. Auch beim Carcinom der Vulva oder des Uterus wurde mehrfach Pruritus beobachtet und sogar als ein Frühsymptom dieser Affectionen be zeichnet. Pflanzliche oder thierische Parasiten in der Vulva oder Vagina bedingen gleichfalls Jucken; ebenso Hautkrankheiten, wie Hyperhidrosis, Seborrhoe, Erythem, Urticaria, Herpes, Furunculosis, Ekzem an, oder um die äusseren Genitalien.

Diese letztgenannten beiden Affectionen müssen die Aufmerksamkeit des Arztes immer auf einen etwaigen Zuckergehalt des Urins richten. Aber auch ohne ihr Vorhandensein, selbst beim Mangel aller Veränderungen an denäusseren Genitalien ist beim Pruritus vulvae stets an Diabetes mellitus als ursächliches Moment zu denken und der Urin zu untersuchen. In vielen Fällen ist der Pruritus überhaupt das erste Symptom dieser Krankheit.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass der über die Vulva fliessende dia- betische, in selteneren Fällen auch der nephritische Urin local die Juckempfindung ?sei es mit Hilfe von Mikroorganismen, sei es allein durch chemische Wirkung ?verursacht, ebenso wie der bei Icterus durch abnorme Zusammensetzung der Galle chemisch alterirte Koth allge meinen und vulvären Pruritus bedingen kann. Bei Morphium-oder Alkoholmissbrauch lässt sich nach Veit (1. c. pag. 142) durch eine zu weilen beobachtete Schweissproduction der Juckreiz erklären. Gegen Jodo form haben manche Frauen eine ausgesprochene Idiosynkrasie; wir sahen in und ausser dem Wochenbette dessen Application auf die Vulva und den Damm von unerträglichem Jucken, zuweilen mit Eruption von Urticaria, gefolgt. Mehreren unserer Kranken war dies von früheren Operationen und Wochenbetten her bekannt, so dass sie uns von der Anwendung des Jodo forms Abstand zu nehmen baten. In einem Falle, wo ich trotz einer solchen Warnung das Mittel anwandte, hielt ein quälender Pruritus vulvae so lange an, bis ich jede Spur des Jodoforms durch Abspülen und Abwischen von der Dammwunde entfernt hatte.

Die consecutiven Hautaffectionen an der Vulva sind bei kurzer Dauer der Erkrankung unbedeutend: massenhafte kleine, papilläre, faden förmige Wucherungen, mit spitzen Condylomen nicht zu verwechselnde Hautwärzchen an der hinteren Commissur, seitlich am Hymen, den kleinen. 54 Vulva.

Schamlippen und der äusseren Harnröhrenmündung, welche meist etwas feucht sind und selbst bei vorsichtiger Berührung mit der Sonde schmerzen (Fritsch4). Bei älteren Personen findet man oft Gefässektasien, dunkelrothe bis braune Haut Verfärbungen im Vestibulum, besonders um die Harnröhren mündung herum. Ebenso findet man häufig kleine, gelbe Knötchen, Secret- retention in den Talgdrüsen (Hofmeier).

Bei den höheren Graden des Leidens und nach längerem Bestehen findet man neben den mannigfachen Kratzeffecten und Verlust der Spitzen der Schamhaare durch das Scheuern die einzelnen Theile der Vulva, besonders die Labia majora und die Clitoris mit Frenulum und Präputium erheblich verdickt und oft stark geröthet. Die Oberfläche ist oft ungemein trocken. Die charakteristisch, bleigrau (auch ohne Pilzbildung), wie mit Mehlstaub überstreut aussehende Haut hat ihre Elasticität verloren, zeigt eine eigenthümliche Steifheit, so dass die Falten stehen bleiben, und hängt in kaut schukähnlichen Wülsten herunter. Doch kann Pruritus vulvae auch ohne Hautveränderungen bestehen.

Mikroskopisch findet Veit (1. c. pag. 131) in grösseren Hautpartien, welche die Pruritusveränderungen darbieten, eine »entzündliche Para- keratose«, ein Bild von subepithelialen kleinzelligen Infiltrationen; die Keratinbildung ist gestört und dadurch findet die Abstossung der verhornten Lagen unregelmässig statt.

Das Leiden entwickelt sich in der Regel allmählich und erstreckt sich oft über Jahre, ja Jahrzehnte. Besonders in der Bettwärme, sowie nach stärkeren körperlichen und geistigen Erregungen, nach Alkoholgenuss, bei warmer Temperatur tritt das quälende Gefühl ein, das in frischeren Fällen mehr als ein Brennen, in älteren als Jucken empfunden wird und unwider stehlich zum Scheuern und Kratzen, dadurch oft auch zur Masturbation ? mit der übrigens der Pruritus nicht zu verwechseln ist ?reizt. Zuweilen tritt der Pruritus anfallsweise, ein-oder mehrmals am Tage auf. Hierdurch, sowie durch den Mangel an Schlaf, durch die Scham über ihren Zustand kommt es bei den Kranken zu hochgradiger nervöser Erregung und allge meinen Ernährungsstörungen, nicht selten zu schwerer Melancholie mit Selbstmordgedanken.

Die Diagnose hat vor allem ihr Augenmerk auf die Erkenntniss der den Pruritus veranlassenden ursächlichen, allgemeinen oder localen Erkrankung zu richten. Zuweilen genügt dazu schon die Besichtigung der Vulva (z. B. bei frischer vulvärer Gonorrhoe oder Vulvitis mycotica) oder die bei Frauen, die über Pruritus klagen, stets in erster Reihe vorzuneh mende Urinuntersuchung (Diabetes, Nephritis) oder die Constatirung eines Icterus. Alkoholismus, Morphinismus, Hautkrankheiten (s. Aetiologie) sind zu beachten. Alsdann muss der Zustand der Schleimhaut des Genitalcanales, von der Vulva methodisch bis zur Corpusschleimhaut emporsteigend, mittels aller klinischen Hilfsmittel (mikroskopische und bakteriologische Secret-, wenn nöthig auch Sondenuntersuchung und Probecurettement des Endometrium corporis, bei geringer oder scheinbar fehlender Secretion Schultze's Probetampon) geprüft werden. Ergiebt die erste Untersuchung kein positives Resultat, so muss zur prä-und postmenstruellen Zeit wiederholt untersucht werden. Zuweilen, wenn jede Grundursache des Pruritus zu fehlen und der Zustand zur Annahme einer Neurose zu zwingen scheint, tritt bei längerem Abwarten eine plötzliche Exacerbation des bis dahin latenten Grundübels (z. B. einer infectiösen Endometritis) zutage und bringt zugleich mit der Klärung der Sachlage die Möglichkeit, mit der Heilung des acuten Katarrhs auch diejenige des Pruritus zu erreichen. Nicht selten aber ist der Zu sammenhang beim scheinbar vollständigen Fehlen aller ursächlichen Momente derartig, dass es durch die Grundursache zum Jucken kommt und dass bei oft wiederholtem Kratzen durch die dadurch bewirkten entzündlichen Ver änderungen der Haut der Juckreiz bestehen bleibt, auch wenn die erste Krankheit fast oder ganz geheilt ist (Veit). B. S. Schultze5) war der erste, der diese Auffassung, dass die Hautveränderung beim Pruritus nur secundär ist, klar ausgesprochen hat: »Es juckt, darum wird gekratzt, und infolge dessen juckt es immer von neuem und es wird umsomehr gekratzt und ge rieben; so entsteht ein Circulus vitiosus. Durch so fortgesetzte Behandlung erkrankt das Corium, es geht nicht nur die Möglichkeit, Ursache und Wir kung durch die Untersuchung zu unterscheiden, es geht auch der Unter schied selbst schliesslich verloren.«

Die stets quoad sanationem completam sehr reservirt zu stellende Prognose hängt davon ab, ob man das Grundübel dauernd zu heilen und die consecutiven Veränderungen des Nervensystems und im Gesammtorga- nismus zu beseitigen vermag. Gewisse Grundursachen, wie Diabetes, Endo- metritis gonorrhoica, Masturbation, bedingen durch ihre häufigen Recidive auch solche des Pruritus.

Die Therapie hat den alten Grundsatz »Cessante causa, cessat effectus« im Auge zu behalten. Am dankbarsten sind die Fälle von hartnäckigem, vergeblich mit allen möglichen Einreibungen, Bädern, Salben etc. behandeltem Pruritus, bei denen Diabetes die Ursache ist. Oft genügt hier eine anti- diabetische Diät mit oder ohne Karlsbader
Wasser neben Sorge für Sauber keit der Vulva und ihrer Umgegend zur raschen Heilung. Bei Katarrh des ganzen Genitalcanales soll man nicht einen Abschnitt als alleinigen Sitz an sehen, sondern erst in der Heilung des Ganzen die Sicherheit des Erfolges sehen. Die grösste Schwierigkeit besteht dann, wenn die zugrunde liegende Erkrankung fast völlig beseitigt und daher kaum erkennbar ist. Hier kann nur die längere und wiederholte Beobachtung zur Erkenntniss der Ursache des Pruritus führen (Veit).

Die Indicatio symptomatica verlangt meist auch eine Behandlung der juckenden Stellen. Hier ist Sauberkeit an erster Stelle geboten, da auch Unsauberkeit oder erschwerte Sauberkeit zu Pruritus führen können. Hier haben sich uns die von P. Rüge6) empfohlenen, vom Arzt oder einer geschulten Wärterin vorzunehmenden heissen Ab-und Ausseifungen der Vulva, genau so wie vor einer Operation an diesen Theilen, ausgezeichnet bewährt. Ekzeme, Purunculosis etc. der Vulva sind nach der Regel der Dermatologie zu behandeln. Differente Ausflüsse (bei Gonorrhoe, Carcinom etc.) sind neben der radicalen oder palliativen Behandlung der Grundleiden durch Sitzbäder (mit Zusatz von Soda, Weizenkleie, Pottasche) und Scheiden spülungen (Sublimat, Carbolsäure, Solveol) unschädlich zu machen. Zur Abstumpfung der Empfindlichkeit der juckenden Par tien dienen Bepinselungen oder Abwaschungen mit 3 ?5 ?8 %iger Karbolsäure oder l 0/00 iger Sublimatlösung. Auch Ichthyol, sowie Salben von Borlanolin mit Cocain und Menthol haben sich dabei nützlich gezeigt. In den schweren Fällen von Pruritus ohne örtlich erkennbare Erkrankung empfiehlt Ols- hausen Bepinselungen mit 10 ?20%i&er Höllensteinlösung oder Aetzungen der ganzen Vulva inclusive des Mons veneris mit Lapis mitigatus (1: 2 ?3) unter Narkose; in schlimmen Fällen sind 6 oder mehr solche Aetzungen nöthig. Zwischen ihnen können 10 %iger Cocainsalbe, kalte Umschläge und prolongirte kühle Sitzbäder und Berieselungen zur Linderung in Anwendung kommen; Wärme, auch warme Bäder pflegen das Leiden zu verschlimmern. In der Diät sind Alkoholica und starker Kaffee zu vermeiden. Czempin7) will das Nervensystem durch Vermeidung stickstoffhaltiger, sowie gewürzter Speisen und durch Darreichung von Brom-, respective Arsenpräparaten kräftigen, gewiss neben sonstigen Nervinis (Gymnastik, kühlen Abreibungen, Bädern, Luftwechsel etc.) zu empfehlende Mittel, wenn das Nervensystem. 56 Vulva.

unter dem lange andauernden Jucken erheblich gelitten hat. Auch örtliche Anwendung der Elektricität (faradischer und constanter Strom) hat in ein zelnen Fällen Heilung oder Linderung erzielt (v. Campe8). Als letztes Mittel in solchen Fällen, wo nach Beseitigung der ursäch lichen Affection oder mangels der Nachweisbarkeit einer solchen die Hautveränderung der Vulva und mit ihr der Juckreiz bestehen bleibt und wo sich der Reiz auf eine nicht zu grosse, deutlich begrenzte Stelle beschränkt, bleibt die zuerst von Schröder9) angegebene, von Küstner, Webster, Sänger, Fritsch u. a. erfolgreich ausgeführte Excision der erkrankten Vulvapartien (Hautwärzchen, Gefässektasien etc.) in Narkose. Die Defecte werden durch die Naht geschlossen. Man scheue sich nicht, das unterste Ende der Harnröhre abzuschneiden; denn gerade von diesem Punkte aus entstehen Reizungen. Ja es ist mitunter nöthig, einen grossen Ring, der den ganzen Introitus vaginae umfasst, zu entfernen. Die Patientinnen, die so geheilt werden, gehören zu den dankbarsten!(Fritsch.)

Literatur: *) Sänger, Zur Aetiologie und operativen Behandlung-der Vulvitis pruriginosa. Centralbl. f. Gyn. 1894, pag. 154. ?2) Olshausen, Beitrag zur Lehre von den Neu rosen der weiblichen Genitalorgane. Sitzung der Berliner geburtsh. Gesellsch. 29. Mai 1891. Zeitschr. L Geburtsh. und Gyn. XXII, pag. 431. ?8) Veit, Handb. d. Gyn. III, pag. 129 (Praritus vulvae). ?4) Fiutsch, Krankheiten der Frauen. 9. Aufl. 1900, pag. 59. ?6) B. S. Schültze, Zur Aetiologie und Behandlung des Pruritus vulvae. Centralbl. f. Gyn. 1894, pag. 273. ?6) P. Rüge, Zur Therapie des Pruritus vulvae. Ebenda. 1896, pag. 481. ? *) Czempin, Ueber Pruritus vulvae. Dermat. Zeitschr. I, Heft 4, pag. 324. ?8) v. Campe, Ein Beitrag zur Therapie des Pruritus vulvae. Centralbl. f. Gyn. 1887, pag. 521. ?9) Schrö der, tt ber operative Behandlung des Pruritus vulvae. Zeitschr. f. Geburtsh. und Gyn. XI pag. 38G.


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