Vertigo (von vertere,drehen), Schwindel

Heilkundelexikon

Vertigo (von vertere,drehen), Schwindel

Vertigo (von vertere,drehen), Schwindel - Literatur

Unter der Bezeichnung »Schwindel« hat man häufig eine Reihe verschiedener Erscheinungen zu- sammengefasst, die streng genommen nicht zu einander gehören und in Be zug auf ihre physiologische Ursache entschieden von einander getrennt werden müssen. Derjenige Zustand, welcher als Schwindel im eigentlichen Sinne des Wortes bezeichnet werden muss, ist eine eigenartige Störung des Gemeingefühles der Bewegung. Durch die sensiblen Nerven der Haut (Tast nerven), ferner der Muskeln, der Gelenke und speciell für den Kopf durch die Ampullenzweige des Nervus vestibularis paris octavi werden wir über die Bewegungen, in welche wir den Körper und seine Theile setzen, oder in welche sie versetzt werden, unterrichtet. Diese Bewegungsgemeingefühle. veranlassen ausserdem unwillkürlich, in Form reflectorischer Erregung eine Thätigkeit derjenigen Muskeln, welche thätig sein müssen, um den in seinem labilen Gleichgewichte gestörten Körper aufs neue zweckmässig zu stützen. Werden nun durch eine perverse Thätigkeit jener sensiblen Nerven, welche die Bewegungsgemeingefühle übermitteln, dem Centralorgane unrichtige Eindrücke über die Bewegungen des Körpers oder seiner Theile zugeführt, so empfinden wir theils diese abnormen Bewegungsgefühle, theils löst das Centralorgan, den abnormen Anregungen entsprechend, für die Gleichge wichtserhaltung des Leibes unzweckmässige Bewegungen aus. Es entsteht also ein perverses Gefühl der Stabilität, verbunden mit Schwanken des Körpers; beides macht den echten Schwindel aus.

Auch durch den Gesichtssinn werden wir unterrichtet über die Ruhe und die Bewegung des eigenen Leibes und seiner Theile sowie über die der Gegenstände der Umgebung. Alterationen des Gesichtssinnes ge wisser Art können daher ebenfalls Täuschungen über Ruhe und Bewegung des Leibes oder der Gegenstände der Umgebung veranlassen, ferner ebenso unzweckmässige Muskelactionen zur Erhaltung des Körpergewichtes aus lösen und dadurch ebenso zum Schwindel Veranlassung geben. Geschichtliches: Aretaeus von Cappadocien (Zeitgenosse des Nero 54 n. Chr., nach Anderen des Domitian 81 n. Chr.) widmet dem Schwindel (Scotoma) ein besonderes Capitel. Derselbe kann bei gewöhnlichem Kopfschmerz, aber auch bei dauerndem schmerz haften Kopfleiden auftreten und vermag im weiteren Verlaufe die Quelle zu werden für Epilepsie, Manie und Melancholie. Der Schwindel kann ferner Folge unterdrückter Hämor- rhoiden, ausgebliebenen Nasenblutens und unterbrochener Transspiration sein. Auch eine be sondere Cur des Schwindels wird von Aretaeus beschrieben. ?AjBtius von Amida (543 n. Chr.) macht die wichtige Beobachtung, dass die Augen desjenigen, welcher eine drehende Bewegung anschaut, sich gleichfalls im Zirkel mit bewegen, und bringt so die unwillkürlich erfolgenden Augenbewegungen in Verbindung mit dem nachfolgenden Schwindel. ?Thomas Willis (1667) hält den Schwindel für eine Affection der Lebensgeister, deren Bewegung im Gehirn zum Theil gestört, zum Theil unterdrückt erscheine. Aehnlich äussert sich Plater. Ersterer beschreibt einen Fall von Epilepsie, deren anfängliche Insulte in Schwindel be standen. Michael Ettmüller (Ausgang des 17. Jahrhunderts) stellt die treffende Behauptung auf: In oculis fit ista rotatio sive motus ille inordinatus, qui vertiginem infert. Sowie in einem Spiegel, welcher bewegt wird, so scheinen auch im Schwindel die Objecte bewegt, während in Wirklichkeit die Augen in Bewegung sich befinden.

Sehr beachtenswerth sind im Anfange des 18. Jahrhunderts die Darlegungen Hermann Boerhaave's über den Schwindel. Den Sitz desselben verlegt er in das Sensorium commune: nicht jedoch seine eigentliche Ursache, sondern nur die schliessliche Empfindung. Und er fügt hinzu: Nunquam fit ille morbus sine af fectione visus,... afficitur enim in motu, ?denn alle Objecte scheinen sich zu drehen, sie erscheinen weiterhin in ihrer Farbe verändert, blaugrün. Das Auge wird angegriffen, sei es, dass die Sehaxe oder der Augapfel oder die Netzhaut verändert wird. Es entstehen Doppelbilder, oder zwei Gegen stände fallen in einem Bilde zusammen. Zuletzt verdunkelt sich das Gesicht. Es leidet ferner aber auch der Gehörsinn, wie es aus dem Auftreten verschiedener Schallerscheinungen geschlossen werden muss. Alle Muskeln zucken endlich hin und her, es entsteht Zittern, Schwäche und das schliessliche Hinstürzen. ?Herz (1786) definirt also: »Der Schwindel ist derjenige Zustand der Verwirrung, in welchem die Seele wegen der zu schnellen Folge der Vorstellungen sich befindet.« Dieser auf reiner Speculation beruhende misslungene Er klärungsversuch muss angesichts der Lehren von Ettmüller und Boerhaave sehr über raschen. Herz rechnet mit Recht zu den Ursachen des Schwindels gewaltsame Erschütterungen des Kopfes und Verwundungen, blutige, eitrige oder seröse Ergüsse im Gehirne. Ferner nennt er Inanition, starken Aderlass oder sonstige natürliche oder widernatürliche Blutflüsse, wenn sie plötzlich und in grosser Menge entstehen; desgleichen Wasserabzapfungen in der Bauchwassersucht, da die vorher zusammengedrückten Gefässe des Unterleibes auf einmal erweitert werden und das Blut aus den oberen Theilen schnell abüiesst; daher die Erschei nung bei zarten Personen, die, wie Whyt bemerkt, wenn sie den Kopf niederbücken und plötzlich wieder aufheben, von Schwindel hefallen werden. Uebermässige geistige Anstren gungen, Gemüthsbewegungen, Angst, Zorn, Trauer, starke und anhaltende Erregungen des Gesichts und des Gehöres gelten ihm als weitere ätiologische Momente. Als Ursache des Schwindels rechnet Herz auch noch die Reizung des Gehirnes, welche von einer Schärfe des Blutes herrührt, wohin er den venerischen Schwindel (Astruc) und den scorbutischen rechnet; doch ist er sich über die Berechtigung der Annahme dieser Ursachen offenbar nicht klar.

Auch von fern liegenden Organen kann der Schwindel erregt werden, so namentlich von Magenkatarrhen, wie schon Boebhaave wusste, von Darmaffectionen durch Katarrhe, Parasiten, Fremdkörper, Flatus. Auch die übrigen Unterleibsorgane können die Ursache ab geben, die Gebärmutter, sowie auch der Durchgang von Steinen durch enge Canäle (Gallen gang, Harnleiter, Harnröhre).

Die ersten genaueren und grundlegenden Beobachtungen über den Schwindel rühren von Pubkinje her (1820 ?26), worüber das Folgende hier mitgetheilt werden soll. In dem Abschnitte »über wahre und scheinbare Bewegungen in der Gesichtssphäre« macht Pürkinje eine Reihe hierher gehörender Bemerkungen. Wahre sub- jective Bewegungen in der Gesichtssphäre sind nach ihm nur solche, die durch ein Fort rücken des Eindruckes von einer Stelle der Retina zur anderen bei fixirtem Auge bedingt sind. Der Eindruck selbst kann entweder durch blos innere organische Vorgänge oder durch von der Aussenwelt ausgehende objective Bewegungen veranlasst werden. Sobald der Augapfel in Bewegung gesetzt wird, scheidet sich sogleich das subjectiv Gesehene von dem objectiv Gesehenen, indem jenes (im Gegensatze zu diesem) bei allen Bewegungen des Auges seinen Ort nicht ändert. Wird das Auge schnell und wiederholt auf- und abwärts gewendet, so oscillirt der Gegenstand ebenso schnell, aber umgekehrt abwärts und aufwärts; wankt das Auge horizontal von einer Seite zur anderen, so springt der Gegenstand eben so schnell hin und her; wird das Auge in einer Bogenlinie von einer Seite zur anderen geführt, so beschreibt der Gegenstand in entgegengesetzter Richtung einen Katzensprung, und so um gekehrt; bewegt sich das Auge im Kreise, so macht der Gegenstand einen Gegenkreis etc. Je schneller, je unwillkürlicher diese Bewegungen des Augapfels sind ?bemerkt er weiter ?, desto deutlicher ist die Scheinbewegung. Aber nicht blos ein einzelner Gegenstand be wegt sich unter diesen Bedingungen, sondern das ganze Gesichtsfeld. Es giebt krampfhafte Zufälle, wo ähnliche Bewegungen des Augapfels sich einfinden, wo also auch die Gegen stände in ähnlichen, scheinbar oscillirenden Bewegungen sein werden. Pubkinje geht dann weiterhin auf die Erklärung des Gesichtsschwindels ein, insoferne dieser zu den Scheinbewegungen des Gesichtssinnes gehört. Es ist wohl niemand ? sagt er ?, dem nicht die scheinbaren Bewegungen der sichtbaren Gegenstände, welche beim krankhaften oder künstlich erzeugten Schwindel vorkommen, bekannt wären. Auch diese beruhen auf unwillkürlichen Bewegungen des Angapfels, die, weil sie als solche nicht wahr nehmbar sind, aufs objective übertragen werden. Diese unwillkürlichen Bewegungen sind nach massigen Umdrehungen um die eigene Körperachse sehr unbedeutend, werden aber nach heftigen sehr bemerkbar.

Ein anderer Beweis, dass diese Scheinbewegungen von unwillkürlichen Bewegungen des Augapfels abhängen, lässt sich nach Pdbkinjb auch daraus führen, dass, wenn der Aug apfel willkürlich fixirt wird, diese Bewegungen nicht zur Erscheinung kommen. Sobald man jedoch das Auge aus seiner fixirten Haltung freilässt, so tritt der Gesichtsschwindel sogleich ein, bi3 man wieder das Auge fixirt und so ferner. Man kann den Augenschwindel schnell curiren, wenn man das Auge durch willkürliche Anstrengung zum Stillstande bringt; ein Beweis, dass jene Scheinbewegungen nur von seinen uns unbewussten Bewegungen abhängig sind. Woher kommt nun jene unwillkürliche Bewegung der Augen?fragt Pubkinje. Sie ist mit einer einseitigen Bewegungstendenz des gesammten Muskelsystems verknüpft, daher die Erscheinung des Schwindels im Tastsinne;... die Scheinbewegungen können blos auf das Auge beschränkt bleiben, oder sie theilen sich dem gesammten Bewegungssysteme mit. Dieses letztere ist nach Pubkinje's Meinung durch eine krank hafte Hirnthätigkeit vermittelt, die, wenn sie als Bewegungsinstinct auf die Bewegungsorgane übergeht, in diesen entweder eine der Scheinbewegung des Gesichtssinnes gemässe oder eine turbulente Bewegungstendenz erzeugt, die leicht in wirkliche Bewegung ausschlägt. Bei manchen Menschen zieht das Auge bei*den geringsten Veranlassungen das Hirn in Mitleidenschaft und macht den partiellen Schwindel zum all gemeinen; bei anderen ist dieses hingegen nie der Fall oder tritt nur dann ein, wenn das Gehirn krankhaft afficirt ist. Eine gleiche, passiv stimmende Einwirkung auf das Hirn hat die Angst, die Furcht und jede andere deprimirende Potenz (Purkinje). Wenn wir nunmehr zur Besprechung der Einzelursachen des Schwin dels übergehen, so soll zuerst gehandelt werden von dem Schwindel, welcher eintritt infolge abnormer Bewegungen der Augäpfel oder von Störungen derselben.

Ein ruhender Gegenstand der Aussenwelt kann unter Umständen auf uns den Eindruck »scheinbarer Bewegung« hervorrufen, während wir thatsächlich selbst die Bewegten sind. Es ist dies zumal dann der Fall, wenn die Eigenbewegung unseres Körpers in einer Art erfoigt, welche sich unseren Gefühlsnerven nur wenig einprägt, und das Object relativ wenig umfangreich ist. Es schiebt sich dann das Bild des ruhenden Gegenstandes über unsere bewegte Netzhaut hinweg, ähnlich wie im ruhenden Auge das Bild eines bewegten Gegenstandes sich verschiebt. Im allgemeinen erscheint uns von zwei gegenseitig zu einander den Ort wechselnden Ob- jecten das kleinere als das bewegte, das grössere als das ruhende. Bei spiele: Besonders zwingend ist wohl jedem der Eindruck beim Hinaufge zogenwerden in einem Fahrstuhle, als ob die Wand des Schachtes, die wir nur durch eine schmale Ritze sehen, in die Tiefe sinke. Oeffnet man die Thür weiter, so dass eine grössere Fläche der Wand des Schachtes er scheint, grösser womöglich als das Bild von den Theilen im Fahrstuhle ist, so hört die Täuschung plötzlich auf, wir erkennen uns selbst als die im Fahrstuhle hinauf Bewegten. ?Verlässt man auf einem grossen Schiffe den Hafen, so scheinen sich die Gegenstände in und an dem letzteren rückläufig zu entfernen: Provehimur portu terraeque urbesque recedunt (Virgil). ? Ein Blick durch ein Fenster eines Eisenbahnwagens täuscht uns, als sausten Telegraphenstangen, Bäume u. dergl. in rückwärts gerichteter Bewegung an uns Ruhenden vorbei. ?Blicken wir auf eine grössere strömende Wasser masse von einer beschränkten Uferstelle aus, so fühlen wir uns bald strom aufwärts fortbewegt. ?Der Mond erscheint uns bewegt, wenn wir auf die um ihn fortziehenden Wolken hinschauen.

Eine andere Art von Scheinbewegung erfolgt durch nachstehende Vor gänge an den Augen. Zieht schnell vor unseren Augen ein am besten aus gleichartigen Gegenständen bestehendes Object vorüber, sei es, dass das Object bewegt wird, sei es, dass wir uns an demselben (z. B. seitlich einem Staketenzaune entlang) bewegen, so folgen die Augen ruckweise den einzelnen Theilen des Objectes. Dauert dies längere Zeit an, und wendet man nun plötzlich die Augen auf einen anderen Gegenstand, so machen die Bulbi noch eine oder andere ruckartige Bewegung nach, und die Folge davon ist, dass dieses nun angeschaute Object eine Scheinbewegung im entgegen setzten Sinne ausführt. Hierdurch kann eine kurze Schwindelempfindung her vorgerufen werden.

Ob es nun bei allen diesen Bewegungstäuschungen zu wirklich aus gesprochenem Schwindel kommt, hängt ganz wesentlich von der Stimmung des Gehirns ab, insofern nervös veranlagte Individuen viel leichter afficirbar sind. Hierüber ist das oben Mitgetheilte, von Purkinje mit Recht Hervor gehobene zu vergleichen.

Inwieweit im Räume abnorm sich bewegende Gegenstände Schwindel zu erregen imstande sind, erkennt man am leichtesten an folgendem Ver suche. Befindet man sich in einem dunklen Räume einer grossen hellen Fläche gegenüber, auf welche man Bilder mit der Camera projicirt, so ent steht deutlicher Schwindel, sobald diese Bilder schwanken oder näher oder entfernter erscheinen durch Vergrösserung oder Verkleinerung derselben. Aehnlich, wiewohl weniger zwingend verhält es sich, wenn man ausge dehnte Objecte in einem grossen Spiegel betrachtet, welcher in schwankende Bewegung gesetzt wird.

Bekannt sind die regelmässig auftretenden Schwindelerscheinungen bei schnellem Drehen um die Körperachse, die man passend mit der kurzen Bezeichnung »Drehschwindel« belegt hat. Theilweise schon während der Drehung, weiterhin aber nach dem Aufhören derselben gerathen die Objecte der Aussenwelt in eine Scheinbewegung nach der entgegen gesetzten Richtung hin. Diese Scheinbewegungen der Aussendinge rühren davon her, dass die Augen sich bewegen, ohne dass der Ort, auf den die Aufmerksamkeit gerichtet ist, sich geändert hat. »Körper und Augen setzen dann die Drehung in der Richtung der vorangegangenen Körperdrehung fort, es werden dadurch die Netzhautbilder verschoben, und da diese Ver schiebung der Bilder hier nicht durch Aenderung der absoluten Raumwerthe compensirt wird, so scheinen sich die Dinge entsprechend der Bildverschie bung in derjenigen Richtung hin zu verschieben, welche der Richtung der. Augendrehung entgegengesetzt ist (Purkinje's Gesichtsschwindel). Dass da bei die starke, unwillkürliche Nachdrehung der Augen und nicht die viel geringere Nachdrehung des Körpers die Verschiebung der Netzhautbilder im wesentlichen bedingt, kann man leicht mit Hilfe eines zuvor erzeugten, dauerhaften Nachbildes beweisen. In analoger Weise führen auch alle pas siven, nicht durch Muskelcontraction bewirkten Augenbewegungen, wie man sie z. B. durch seitlichen Pingerdruck auf den Augapfel herbeiführen kann, zu entsprechender Scheinbewegung der sichtbaren Dinge« (E. Hering). Infolge von Lähmungen der äusseren Augenmuskeln treten viel fach Doppelbilder auf: bei krankhaft gesteigerter Convergenz der Sehachsen entstehen ungekreuzte, d. h. beim Schliessen des einen Auges schwindet das Bild derselben Seite. Pathologische Divergenz erzeugt gekreuzte Doppelbilder, hierbei erlischt das gekreuzte Bild beim Schluss des einen Auges. Hierdurch tritt Unsicherheit in der Abschätzung der Lage der Gegen stände in der Aussenwelt auf. Sogar vorübergehende Störungen der Blut- circulation innerhalb der Kerne der Augenmuskelnerven ist nach Mendel oft die Ursache auftretenden Schwindels.

Paresen und Paralysen der Augenmuskeln bedingen weiterhin abnorm starke Innervation oder anders geartete Combinationen der Augenmuskeln bei der Bewegung der Bulbi. Bei starker Convergenzanstrengung pflegen wir die Gegenstände für näher und kleiner zu halten, als sie wirklich sind, umgekehrt verhält es sich bei vermehrter Divergenzinnervation. Der aus gesprochene Gesichtsschwindel tritt ein bei der Benutzung des gelähmten Auges allein und zwar dann, wenn das an falscher Stelle projicirte Object durch eine Bewegung plötzlich an seinem richtigen Standpunkt erscheint. »Ist z. B. der äussere Gerade des rechten Auges gelähmt und der Kranke schliesst das linke Auge, so scheint sich ihm alles Sichtbare nach rechts zu bewegen; er unterliegt dem sogenannten Gesichtsschwindel. So bald sich nämlich seine Aufmerksamkeit nach rechts wendet, erfahren alle Breitenwerthe der Netzhaut einen entsprechenden positiven Zuwachs und er localisirt, da wegen der Lähmung das Auge und seine Netzhautbilder ihre Lage nicht verändern, die Sehdinge in demselben Masse weiter nach rechts, als der Aufmerksamkeitsort nach rechts gewandert ist« (E. Hering). Der bei BASEDOw'scher Krankheit mitunter auftretende Schwindel ist wohl bedingt durch Störungen in der Bewegung der Augenmuskeln und so dem eigenartigen Zittern und den krampfhaften Zuckungen der Antlitz-, Extremitäten-oder selbst aller Muskeln an die Seite zu stellen, die man bei dieser Krankheit mitunter beobachtet.

Der bei epileptischen Anfällen so häufig beobachtete Schwindel erklärt sich zum Theil auch durch die Rindenreizung der motorischen Augen nerven oder durch Alteration des Innervations-, Tast-und Druckgefühls gleichfalls infolge von Rindenreizung in den betreffenden centralen Regionen. Beim chronischen Magenkatarrh kommt es statt der Bildung der normalen Verdauungsproducte zu abnormen Zersetzungen in den Ingestis, welche nach ihrer Resorption giftig auf das centrale Nervensystem, und zwar besonders auffällig auf das grosse Gehirn einwirken. Durch diese »Autointoxication« wird die Gemüthsstimmung »hypochondrisch«, schwer- müthig, verdrossen und verzagt neben Reizbarkeit und Aufbrausen, geistige Unlust und Unaufgelegtheit stellt sich ein, tiefer, nicht erfrischender Schlaf mit beunruhigenden Träumen, in höheren Graden zeigt sich Benommenheit, Kopfschmerz, das Gefühl von Schwere in den Gliedern, Kälte in den Ex tremitäten, Jucken oder Ameisenkriechen; in den stärksten Graden kann die Giftwirkung sogar Delirien hervorrufen. In der motorischen Sphäre er scheinen als Reizerscheinungen häufiges Gähnen, Zusammenziehen im Munde oder Husten (»Magenhusten«), seltener Krämpfe und sogar typische Tetanie. Zu den auf motorischen Störungen beruhenden Erscheinungen gehört auch der sogenannte »Magenschwindel« (Vertigo stomachalis sive a stomacho laeso, Vertige stomacal von Trousseau). Meiner Meinung nach handelt es sich um eine Reizwirkung der giftigen Zersetzungsproducte auf diejenige Region der Grosshirnrinde, welche die Bewegung der Augäpfel beherrscht (entweder der Gyrus angularis im Parietallappen oder nach v. Bechterew der hintere Theil der zweiten Stirnwindung oder ihre Nachbarschaft): es werden sich irritative Schwankungen oder Paresen entwickeln, welche das Schwindel gefühl veranlassen. Diese Anschauung stimmt mit den anderen Erscheinungen, die von der afficirten Hirnrinde herrühren, überein. Die Annahme, dass die Giftwirkung primär die halbzirkelförmigen Canäle und den achten Hirn nerven beeinflusse und von diesen erst der Schwindel hervorgerufen werde, erscheint, wenn man auch nicht die Möglichkeit in Abrede stellen kann, immerhin wenig wahrscheinlich. Der Magenschwindel ist unter Umständen ein lästiges Symptom und kann ein Leiden des Gehirns vortäuschen, ähnlich wie der nicht selten hierbei aussetzende Puls nur den Unkundigen auf eine tiefere Störung der Herzthätigkeit hinweisen könnte.

Bei Herzfehlern kommt es zu verschiedenartigen Verdauungsbeschwerden, Kopfschmerz und Schwindel, dessen Erklärung sich also aus dem Vorstehenden ergiebt. Dass neben den Magenaffectionen auch solche des Darmtractus in analoger Weise wirken können, leuchtet ein: Katarrhe, übermässige Gasentwicklungen, abnorme Zersetzungen, Parasiten, hoch gradigere Veränderungen der Blutfülle und der Circulation.

Scheinbewegungen der Aussendinge und im Verein mit ihnen Schwindel erscheinungen müssen weiterhin überhaupt bei unwillkürlichem Augen schwanken, dem sogenannten Nystagmus, zur Erscheinung kommen, und zwar treten dieselben stets ein in den Fällen, in welchen das Augen schwanken ein später acquirirtes Leiden ist, während dieselben merkwür digerweise bei angeborenem Nystagmus fehlen. Man hat den Nystagmus nach Verletzung ganz bestimmter Theile des centralen Nervensystems wahrge nommen. So haben einseitige oberflächliche Läsionen des Corpus restiforme des verlängerten Markes, sowie des Bodens der vierten Gehirnhöhle denselben zur Folge (Schwahn und Eckhard). Von verschiedenen Seiten ist die Angabe gemacht, dass auch Verletzungen oder Reizungen des kleinen Gehirns unwillkürliches Augenschwanken neben Schwindelerscheinungen hervorriefen. Allein sorgfältige Prüfungen weisen wohl auf eine gleichzeitig erfolgte Läsion des verlängerten Markes hin, von welchem die Erscheinungen abhängen. Denn die Medulla oblongata enthält in der That einen die nor malen Augenbewegungen beherrschenden Apparat (Eckhard). Nystagmus und Verdrehung der Augen bringen nach v. Bechterew auch Verletzungen der Olive des verlängerten Markes mit sich.

Bei meinen Untersuchungen über die Krampfbewegungen, welche durch chemische Reizung der Grosshirnoberfläche ausgelöst werden, beobachtete ich bei den Versuchsthieren neben den Zuckungen in den Muskeln des Kopfes auch doppelseitiges unwillkürliches Augenschwanken. Ganz ähnlich wird es bei den urämischen Convulsionen beschrieben, denen mitunter Schwindel als Vorläufer vorhergeht.

»Reizungen oder Lähmuügen der Nerven der Augenmuskeln im urä mischen Anfall bewirken die nicht selten beschriebenen Formen des Stra- bismus und das damit verbundene Auftreten von Diplopie. In erster Linie ist hierbei auf das Ergriffensein des cortikalen Bewegungscentrums zu achten, zugleich aber zu erwägen, ob nicht die Nervenkerne im Hirnstamme durch ein complicirendes Leiden ergriffen seien. Von einer Reizung der Hirnrinde in der Gegend des motorischen Centrums der äusseren Augenmuskeln muss auch der mitunter beobachtete Nystagmus hergeleitet werden, welcher eben in klonischen Zuckungen bestimmter Augenmuskeln besteht, deren cortikaler Ursprung den reizenden Retentionsstoffen ausgesetzt ist, wie ihn auch unsere Thierversuche zeigten. Er ist eben durchaus ähnlich den klonischen Zuckungen der Extremitäten, der Kau-und sonstigen Muskeln, wie sie ausser bei urämischer Rindenreizung auch bei irritativen Schädelverletzungen beobachtet worden sind. Ist der Nystagmus einseitig, oder falls bilateral ungleichartig, so wird neben Scheinbewegung und Schwindel Doppelsehen eintreten müssen« (L. Landois, Die Urämie. Wien und Leipzig, 1891, 2. Aufl., pag. 182).

Nystagmus findet sich weiterhin bei der hereditären Ataxie (Friedrich's ataktischer Nystagmus, sehr selten bei erworbener Tabes), ferner als Ausdruck von Reizungszuständen an den motorischen Augennerven oder ihrer Rindencentra bei eiteriger Meningitis, Leptomeningitis an der Convexität, weiterhin dem Zittern und den Sprachstörungen an die Seite zu stellen bei multipler inseiförmiger Sklerose des Gehirns (und Rückenmarkes), wo er bei beabsichtigten Augenbewegungea oder beim Pixiren meist in Form nur geringer, meist seitwärts gewendeter Zuckungen an den Bulbi sich zeigt. Als Reizungs-oder Lähmungserscheinungen treten auch bei Thrombose der Hirnsinus Nystagmus und Strabismus auf und, wie leicht erklärlich, bei Affectionen des Ursprungs der motorischen Hirnnerven in ihren Kernen, zu mal des Oculomotorius im Vierhügelgebiete.

Auch noch bei den folgenden Cerebralleiden findet man den Nystagmus als Symptom aufgeführt: bei Hirnrindenläsionen nach Schädelverletzungen, bei epileptiformen oder hysteroepileptischen Anfällen, bei Hydrokephalus, Syringomyelie, Hirntumoren, eiteriger Polioenkephalitis, Gehirnabscessen, Ge hirndruck oder Blutungen, progressiver Paralyse der Irren, Gehirnreizungen durch abnorme Blutwallungen oder Anämien. Die Erklärung des Auftretens ist in dem Vorstehenden gegeben.

Als ich die Medulla oblongata bei Thieren durch chemische Reizung stärker afficirte, trat neben den Krämpfen auch Nystagmus in die Erschei nung (Landois, Die Urämie. 2. Aufl., pag. 54). In Uebereinstimmung hiermit findet sich dasselbe auch beim Menschen bei Reizungen dieser Stelle und des 4. Ventrikels, z. B; durch Tumoren. Der Schwindel, welcher hier sowie bei der Hämorrhagie in der Medulla oblongata auftritt, ist wohl zu rückzuführen auf eine Verletzung oder Reizung des Ursprungs des achten Hirnnerven. Analog verhält es sich bei Compression des verlängerten Markes. ?Unter den Leiden, welche sonst noch Nystagmus hervorrufen, werden namhaft gemacht: alkoholische Neuritis, Erweichung der Vierhügel, Geschwulstbildung im Pedunculus cerebri, Akromegalie und PARKiNSON'sche Krankheit, wo die eigentliche Causa movens nicht stets mit Sicherheit auf zufinden sein dürfte.

Bei Affectionen des kleinen Gehirns ist der Schwindel neben der Unsicherheit beim Gehen, Stehen oder anderweitigen Bewegungen besonders auffällig. Bei ruhigem Stehen oder Liegen tritt er mitunter zurück, um beim Aufrichten, Gehen oder Wendungen lebhaft aufzutreten. Bisweilen scheint der Schwindel die Folge mangelhafter Coordination der Bewegungen des Rumpfes zu sein, der cerebellaren Ataxie.

In einer wichtigen Beziehung zu den Bewegungen der Augen und so mit auch zugleich zu den von den Augenbewegungen abhängigen Schwindel erscheinungen stehen die halbcirkelförmigeu Canäle der Ohrlaby rinthe. Plourens machte (1842) zuerst die Beobachtung, dass eine Zerstörung oder Anstechung dieser Canäle, namentlich wenn sie beiderseits erfolgt war, bei Vögeln sehr prägnante Bewegungsstörungen zur Folge habe. Mit Aus nahme der Fische, bei denen dieselben nach Kiesselbach vermisst werden, beruhende Druckvariation im Labyrinthe zu unwillkürlichen Augenbewegungen Veranlassung giebt, welche dem Schwindelgefühl zugrunde liegen, doch kann auch eine directe toxische Reizung des Rindencentrums der Augenmuskeln vorliegen, oder gar beides.

Zu den giftigen Agentien, welche Schwindel erregen können, gehören auch die durch Autointoxication erzeugten, wie bei Verdauungsstörungen, Diabetes und chronischer Nephritis. Hierher ist wohl auch der von Gerlier beschriebene, jedoch nicht zutreffend bezeichnete sogenannte Vertige paralysant zu rechnen, der im Gebiete des Genfer Sees bei Viehwärtern und Melkern, sowie in Japan endemisch vorkommt. Wohl auf einer Intoxi kation beruhend, setzt diese Affection anfallsweise ein in Form einer inter- mittirenden Paralyse verschiedener Muskeln: der Kopf sinkt kraftlos vorn über auf die Brust, die oberen Lider fallen wie schlaffe Vorhänge nieder {Vertige ptosique), und auch andere Muskeln, welche vorher besonders an- igestrengt waren, erschlaffen paralytisch auf eine mehr oder weniger kurze Zeit, um sich dann wieder zu erholen. Es tritt bei diesen Attaquen kein wahrer Schwindel ein. Die kurze Erwähnung dieser merkwürdigen Erschei nungen mag aber an dieser Stelle gerechtfertigt befunden werden durch die allerdings wenig zutreffende Bezeichnung, welche Gerlier zuerst (1887) denselben beigelegt hat.

Grosses Interesse gewähren die Schwindelerscheinungen, welche bei der Galvanisation quer durch den Kopf, indem die Klektroden in die beiden Possae mastoideae applicirt werden, in ganz charakteristischer Weise hervortreten. Nachdem schon frühere Forscher, namentlich auch Pur- kinje und Brenner, diesem Gegenstande ihre Aufmerksamkeit zugewandt hatten, erfahr das Thema eine weitere, eingehende Bearbeitung durch Hitzig, welcher die Schwindelerscheinungen und gleichzeitig auch die Augen bewegungen beim Durchleiten constanter Ströme untersuchte. Werden nur schwache Ströme durch den Hinterkopf geleitet, so tritt zunächst nur eine unbestimmte Empfindung über das räumliche Verhältniss der Gegenstände der Umgebung zum eigenen Körper auf. Stärkere Ströme erzeugen Schein bewegungen der Gegenstände, die vom positiven Pole (Anode) nach dem negativen (Kathode) sich verschieben, im Momente der Oeffnung der Kette und nach derselben jedoch im umgekehrten Sinne scheinbar bewegt werden. Weiterhin zeigt sich dann als Zeichen intensiverer Einwirkung ein Schwanken des Galvanisirten mit dem Haupte oder mit seinem ganzen Körper nach der Richtung der Anode hin, ?umgekehrt nach der Kathode bei der Oeffnung des galvanischen Stromes. Die während des Schwindels beobachteten Be wegungen der Augäpfel bestehen in einer zuerst erfolgenden ruckweisen Drehung beider Bulbi gleichsinnig mit der Richtung des galvanischen Stromes von der Anode gegen die Kathode hin, und weiterhin in einem langsam er folgenden Zurückwenden derselben. Im Momente der Oeffnung des Stromes und kurz nach derselben erfolgen diese Bewegungen im umgekehrten Sinne. Leitet man beim Kaninchen einen galvanischen Strom durch den Kopf, indem man beide Elektroden in die äusseren Gehörgänge hineinstopft, so stürzen dieselben im Momente des Schliessens nach der Seite der Anode hin, während beide Bulbi unter bedeutendem Nystagmus nach der Seite der Kathode ge dreht werden; bei sehr starken Strömen vollführt das Thier sogar heftige Rollbewegungen nach der Seite der Anode hin. Während der Oeffnung des Stromes kommt es auch hier zu den entgegengesetzten Erscheinungen. In dem Hitzig weiterbin prüfte, inwiefern die Schwindelerscheinungen in einem Abhängigkeitsverhältnisse zu den Augenschwankungen ständen, kam er zu der Ueberzeugung, dass der Schwindel in der That die Folge dieser letzteren sei. Lässt man während der Versuche die Augen schliessen oder stellt man diese an Blinden an, so treten zugleich mit den Bewegungen der Augäpfel Schwindelempfindungen auf, welche auf den eigenen Körper bezogen werden. Beim Schluss des Stromes schwankt oder sinkt der Körper nach der Seite der Anode hin. Der Galvanisirte ist sich hierbei dieser Bewegung bewusst als einer ihm nothwendig erscheinenden Reactionsbe- wegung zur Erhaltung seines Gleichgewichtes, welches nach der anderen Seite hin plötzlich ihm gestört erscheint, als wäre ihm hier die Unterstützung plötzlich entzogen. So wirft sich auch das galvanisirte Kaninchen im Momente des Kettenschlusses auf die Seite der Anode hin, weil es auf der Kathode den Halt zu verlieren wähnt, und es verfällt sogar in Rollbewegungen, wenn dasselbe durch anhaltendes Schwindelgefühl dauernd dieser Unterstützung sich verlustig fühlt, indem es eben hierdurch die Neigung zur Anodenseite hin willkürlich fort und fort wiederholt. Es kann, dem Mitgetheilten ent sprechend, daher keinem Zweifel unterliegen, dass die Schwindelerscheinungen bei und nach der Galvanisation durch den Hinterkopf die Folge sind von den Augenbewegungen, welche sie verursacht. Dieser galvanische Nystag- mus erzeugt abnorme Bewegungsempfindung als die eigentliche Ursache des Schwindels.

Im ganzen übereinstimmend sind die folgenden Versuche von Kny. Dieser (Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, 1887, XVIII) fügte die Elektroden eines constanten Stromes in beide Ohren. Beim Schliessen der Kette fällt der Kopf und der Körper nach der Anode, beim Oeffnen nach der Kathode. Gleichzeitig waren stets Augenbewegungen vorhanden: bei ruhigem Blick in die Ferne rotiren beim Schluss des Stromes die oberen Bulbusabschnitte gegen die Anode hin, worauf eine kurze ruckende Bewegung nach der Kathode folgt. Bei Convergenzstellung beider Augen beobachtet man Nystagmus langsam gegen die Anode, wechselnd mit Ruck gegen die Kathode. Diesen Augenbewegungen entsprechend, schien der Ver suchsperson die Scheinbewegung der Gegenstände der Aussenwelt bei fixirtem Kopfe von der Anode zur Kathode hin zu erfolgen. Werden bei geschlossenen Augen und fixirtem Kopfe starke Ströme verwendet, so entstand das Ge fühl, als ob der Körper sich nach der Kathode hin überschlage. Auch an Hunden und Kaninchen angestellte Versuche scheinen von gleichen Erfolgen begleitet zu sein.

Nach der Verletzung gewisser Gehirntheile hat man charakteristische Störungen der Bewegungen beobachtet, welche von manchen Forschern und, wie es scheint, mit besten Gründen, als auf Schwindelgefühlen beruhend, gedeutet worden sind. Es sind dies die sogenannten »Zwangsbewe gungen«, welche darin bestehen, dass das Wesen seine Bewe gungen in ganz bestimmt abweichender Form auszuführen ge zwungen ist. Es gehören hierher die Reitbahnbewegung (Mouvement de manege), bei welcher das Thier, bei der Intention wegzulaufen, wie das Pferd in der Reitbahn stets in derselben Kreisbewegung, und zwar nach derselben Richtung hin sich umherbewegt; ferner die Zeigerbewegung, bei welcher der Vorderkörper allein die Kreisbewegung ausführt, während der Hinterkörper an Ort und Stelle bleibt, so dass der Körper mit seiner Längsachse eine Bewegung um das Hintertheil herum macht, wie der Zeiger der Uhr um seine Achse. Den höchsten Grad dieser Zwangsbewegungen liefern die Rollbewegungen, durch die der Leib um die Längsachse des Körpers sich wälzt. Die besagten verschiedenen Arten der Zwangsbewe gungen sind übrigens nicht scharf von einander getrennt, vielmehr können. sie ineinander übergehen; sie sind daher nur graduelle Unterschiede der selben Grundstörungen.

Theile, deren Verletzungen diese Zwangsbewegungen erzeugen, sind: das Corpus striatum, der Thalamus opticus, der Pedunculus cerebri, der Pons, der Pedunculus cerebelli ad pontem, bestimmte Theile des kleinen Gehirns und des verlängerten Markes, auch die Olive.

Ich sah Zwangsbewegungen nach chemischer Reizung der Grosshirnoberfläche und nach Verletzungen derselben (L. Landois, Die Urämie, pag. 6 und Lehrbuch der Physiologie, 10. Auflage, Wien1900); auch bei Menschen sind Zwangsbewegungen zumal bei Läsion der Scheitelwindungen beobachtet worden (v. Bechterew).

Ueber die Richtung, nach welcher hin diese Bewegungen ausge führt werden, sind die Angaben zur Zeit noch nicht übereinstimmend. Ein Schnitt in den vorderen Theil der Brücke und der Crura cerebelli bewirkt Rollbewegung nach der nicht verletzten Seite hin; Schnitt in den hinteren Theil derselben Regionen hat die Rollbewegung nach der verletzten Seite hin zur Folge, ebenso ein tieferer Stich am Tuberculum acusticum auf dem Boden der vierten Gehirnhöhle, oder tief in das Corpus restiforme. Das Anschneiden eines Grosshirnstieles erzeugt Reitbahnbewegung mit nach der selben Seite hin gerichteter Convexität. Je näher der Schnitt dem Pons liegt, umso enger wird die Peripherie des Bahnkreises; schliesslich entsteht daraus eine Zeigerbewegung. Verletzung eines Thalamus opticus bewirkt ähnliche Erscheinungen wie ein Stich in den vorderen Theil eines Hirn schenkels, und zwar deshalb, weil eben hierdurch der letztere mitverletzt wird. Verletzung des vorderen Theiles eines Sehhügels hat entgegengesetzte Zwangsbewegungen zur Folge, nämlich mit der Concavität nach der Seite der Verletzung hin. Biegung von Kopf und Wirbelsäule mit der Convexität nach der getroffenen Seite nebst analoger Kreisbewegung bewirkt auch die Verletzung des spinalen unteren Theiles des verlängerten Markes; die Wen dung und Bewegung erfolgt jedoch nach der gesunden Seite hin, wenn das vordere (obere) Ende des Thalamus und die darüberliegende Stelle getroffen worden ist.

Nach v. Bechterew (Arch. f. d. ges. Physiol., XXXIV) bewirkt Durch schneidung des hinteren Kleinhirnschenkels anfallsartige Rollungen nach der verletzten Seite hin, des mittleren hingegen nach der gesunden Seite hin, ferner Ablenkung und Schwanken beider Augen. In den Ruhepausen ist der Körper zwangsmässig nach der Seite der Rollung hingesunken. Genesen die Thiere, so ist der Gang taumelnd nach der gesunden Seite im Kreise umher. Die Durchschneidung eines vorderen Schenkels zieht lediglich Kreisbewegung und Augenverdrehung nach sich. Endlich erfolgte nach doppelseitiger Durch schneidung der hinteren Kleinhirnstiele Unfähigkeit zum Gehen und Stehen, Pendeln des Kopfes, Augenschwanken, aber ohne Nystagmus. Steiner (Sitzungsber. der Berliner Akad., 1885) findet beim Frosche nach Abtragung eines Sehhügels als vorübergehende Reizerscheinung eine Zeigerbewegung nach der gesunden Seite. Abtragung eines Zweihügels nebst dessen Basis hat als dauernde Ausfallerscheinung Reitbahnbewegung nach der gesunden Seite hin zur Folge. Abtragung einer Kleinhirnhälfte ist wirkungslos, dahingegen zeigen sich nach halbseitigen Schnitten in das ver längerte Mark Zwangs-, und zwar vornehmlich Rollbewegungen nach der verletzten Seite hin.

Meschede (Tagebl. d. 53. Naturf. -Versamml.) beobachtete zwei Fälle von zwangsmässiger Rotation des Körpers um seine Achse. Die Autopsie zeigte, dass die Olive der einen Seite abnorm war: in beiden Fällen erfolgte die Rollbewegung stets in der Richtung von der gesunden nach der kranken Seite hin.

Wir verzichten darauf, die verschiedenen Theorien der Zwangsbewe gungen zu erläutern und kritisch zu beleuchten, zumal wir uns auf die Seite Henle's stellen, der zuerst die Erscheinungen aus Schwindelgefühlen der Verletzten hergeleitet ist. Das verletzte Wesen hat die Empfindung, als sinke es nach einer bestimmten Richtung hin um; es macht daher unwill kürliche Gegenbewegungen, die das verloren geglaubte Gleichgewicht wieder herzustellen bestimmt sind. Ich sah mitunter, dass unmittelbar nach der Verletzung des betreffenden Gehirntheiles die Zwangsbewegung in entgegen gesetzter Richtung erfolgte, als ein wenig später. Man wird Recht haben, diese Erscheinung als den Erfolg einer unmittelbar der verletzenden Rei zung schnell nachfolgenden Lähmung des getroffenen Centraltheiies zu betrachten. Die Verletzung ruft bei dem getroffenen Wesen dadurch, dass sie die die locomotorischen Empfindungen vermittelnden Apparate reizt oder lähmt, Täuschungen hervor, als bewege sich der Körper oder die Umgebung nach einer bestimmten Richtung: es entstehen Vorstellungen von Bewegungen, welche der Wirklichkeit nicht entsprechen und eine falsche Beurtheilung des Gleichgewichtes des eigenen Leibes. Durch diese Bewe gungstäuschung werden als unwillkürliche Reaction die Zwangsbewegungen ausgeführt, die den Zweck haben, die abnormen, fictiven Bewegungen durch passende Gegenbewegungen zu compensiren. Nach Nothnagel hat die Ver letzung einer Stelle unweit der hinteren Grosshirnhemisphärenspitze nach einiger Frist intensive Vorwärts-oder Seitwärtsbewegungen zur Folge, gleich falls wohl als Zwangsbewegung wegen der Täuschung motorischer Empfin dung. Wohl ähnlich deutet sich so die unbezähmbare Laufbewegung nach Verletzung des von Nothnagel entdeckten und bezeichneten »Laufknotens«, des mittleren Theiles des gestreiften Körpers nahe dem freien, dem Ven trikel zugewendeten Rande. Nach seiner Verletzung verharrt das Thier zu nächst in der Ruhe, wird es jedoch angetrieben, so rennt es jäh von dannen, bis es von einem unüberwindlichen Hindernisse angehalten wird. Die sämnit- lichen Beobachtungen über die Zwangsbewegungen sind ganz vorwiegend bisher an Kaninchen gemacht worden. Man kann es mit Recht zur Zeit noch als einen Mangel bezeichnen, dass die Versuche nicht auch ausgeführt seien an Thieren, denen die vor den getroffenen Theilen belogenen Massen des Grosshirns vorher weggenommen worden sind, wodurch Aufschluss zu erwarten wäre darüber, ob die Zwangsbewegungen auch unabhängig vom Bewusstsein auftreten, wofür allerdings mancherlei Beobachtungen sprechen.

Zu denjenigen Umständen, welche nicht eigentlich als echter Schwindel bezeichnet werden dürfen, gehören in erster Linie diejenigen, welche durch eine plötzliche Aenderung im Blutgehalte der Hirnrinde hervorgerufen werden können. Hat ein im übrigen selbst gesunder Mensch längere Zeit hindurch die horizontale Lage innehalten müssen, beispielsweise etwa wegen eines Beinbruches, so wird er, falls er sich aufzurichten gezwungen ist, von eigen- thümlichen Anwandlungen befallen. Es flimmert ihm, schwankt vor den Augen, die Lebensfunctionen scheinen zu erlöschen, die Sinne ihren Dienst zu versagen, abnorme Temperaturempfindungen, Kälterieseln, aufsteigende Hitze befallen ihn, der Herzschlag wird beschleunigt und oft schwach und unter dem Gefühle der Beklommenheit und der Angst stockt die normale Athembewegung, die Muskeln werden kraftlos, seltener erschlaffen die Sphink- teren oder es tritt Erbrechen hinzu. Diese Zustände beruhen auf einer plötzlich hervortretenden Anämie des Gehirns, und wenngleich der Befallene die Empfindung hat, als »es schwindle ihm«, so darf der Zufall doch nicht stets mit dem echten Schwindel verwechselt werden. Zufälle der Art werden bei anämischen Patienten oft genug beobachtet. Ebenso wie die plötzliche Anämie wirkt auch nicht selten die momentan auftretende Hyperämie oder venöse Stase, wie man es bei Individuen beobachten kann, welche recht vollblütig sind und die bei Anstrengungen in gebückter Haltung oder selbst beim einfachen Niederbeugen vom Schwindel befallen werden. Anämie und die besagten hyperämischen Zustände reizen die nervösen Bewegungsorgane der Bulbi und bringen auf diese Weise infolge von Augenbewegungen den Schwindel hervor.

In analoger Weise, wie beim Aufrichten ein schwächliches Individuum in der Reconvalescenz vom Schwindel befallen wird, so kann auch der Schwindel anfallsweise auftreten bei Menschen, deren Circulätionsbahnen im Gehirn alterirt sind. Das sind Fälle, welche unter die Rubrik der Vertige cardiovasculaire von Grasset subsumirb sind, deren Arteriosklerose den Hirnarterien zugrunde liegt. Diese Erkrankung kann plötzliche Störungen in der Blutbewegung im Gehirne veranlassen, die in ähnlicher Weise einen Schwindelanfall hervorrufen, wie das Aufrichten eines längere Zeit hori zontal gelagerten schwächlichen Individuums Anämie des Hirns erzeugt, deren Folge der Schwindelanfäll ist.

Zu den Zuständen analoger Art gehört auch der wohl nicht stets richtig benannte epileptische Schwindel (Vertigo epileptica), der unter Ohnmachtsanwandlung oder Benommenheit die disponirten Individuen befällt und mit Aura-artigen Vorboten und anderen Erscheinungen der Fallsucht vergesellschaftet sein kann.

Auch unter dem Einflüsse heftiger psychischer Erregungen, z. B. bei starken Gewittern, kann unter Ohnmachtsanwandlungen der Ausbruch von schwindelartigen Empfindungen veranlasst werden, die jedoch ebenfalls nicht eigentlich diesen Namen verdienen. So ist es auch der Fall bei Indi viduen, welche an Neurasthenie, Hysterie oder Hypochondrie leiden, wenn sie sich etwa in grossen Versammlungen oder ohne zuverlässige Begleitung befinden.

Auf eine Reihe von Affectionen, welche man wohl als Schwindel be zeichnet hat, jedoch streng genommen demselben ebensowenig zugezählt werden dürfen, soll hier endlich nur noch kurz hingewiesen werden. Es sind dies der Platzschwindel (Agoraphobie, I, pag. 328), oder wohl richtiger Platzangst genannt; der Höhenschwindel oder die Höhenangst (Hypso- phobie und die entgegengesetzte Batophobie) und ähnliche Zustände.

Vertigo (von vertere,drehen), Schwindel - Literatur

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