Abdominaltyphus

Heilkundelexikon

Abdominaltyphus

Der Abdominaltyphus ist eine eigenartige, endemisch auftretende Infectionskrankheit, deren Gift sich in den Defectionen der Kranken und bei der Fäulniss gewisser organischer Substanzen bildet. Die wichtigsten Symptome sind: ein oft insidiöser oder durch leichte Fröste, Mattigkeitsgefühl oder Diarrhöen bezeichneter Beginn, ein staffelförmig an steigendes hohes Fieber, das in der Akme continuirlich, im Anfangs-und Endstadium remittirend verläuft; Prostration des Nervensystems, Kopfschmerz, späterhin Benommenheit des Sensoriums und oft Delirien, Neigung zu Herz schwäche, andauernde Diarrhöe, oft Darmblutungen, Anschwellung der Milz, Meteorismus, Empfindlichkeit und Gurren in der lleocöcalgegend, ein vom Ende der ersten Krankheitswoche an in Nachschüben auftretendes Roseolaexanthem, das nicht petechial wird, Neigung zu Recidiven. Die anatomischen Charaktere sind: Anschwellung und Verschwürimg der Drüsen des Dünndarmes und Anschwellung der Mesenterialdrüsen und eigenartige Bacillen in diesen Organen. — Die Krankheitsdauer beträgt durchschnittlich 3—4 Wochen.
Dies ist das typische Krankheitsbild, zu dessen Abgrenzung es der fast fünfzigjährigen Arbeit der besten Beobachter bedurfte. Unbeschadet desselben aber, das immer der Mittelpunkt der Forschung sein wird, ist zu bemerken, dass sich die Infection noch in anderen Erscheinungsformen darstellt. Die Darmläsionen können zurücktreten oder fehlen; dagegen kommen mitunter andere Localisationen vor, namentlich in den Lungen und Nieren, deren Symptome im Vordergrund stehen und wodurch die älteren Bezeichnungen: Pneumotyphus, vielleicht auch Cerebraltyphus etc., wenn auch nicht im ätiologischen Gegensatz zum Abdominaltyphus, doch klinisch in gewissem Sinne wieder zur Geltung gelangen.
Wenige Krankheiten haben von jeher die Aufmerksamkeit der Aerzte in gleichem Masse beschäftigt und sind Gegenstand so eingehender Studien geworden, wie der Abdominaltyphus. Ausser den altclassischen Schriftstellern knüpfen sich an seine Geschichte seit dem Aufblühen der medicinischen Wissenschaft während der letzten Jahrhunderte die Namen der Mehrzahl der bedeutendsten Kliniker und pathologischen Anatomen.
Noch heute sind, schon als Beispiel für die stufenweise Entwicklung unserer Kenntnisse, die Untersuchungen von höchstem Interesse, welche dahin führten, den Abdominaltyphus als eine Krankheit sui generis von anderen Affectionen bestimmt zu differenziren, welche als continuirliche Fieber namentlich mit einer mehr oder weniger hochgradig entwickelten Benommenheit des Sensoriums verliefen. Das vorige, an mannigfachen Epidemien reiche Jahrhundert musste erhebliche Schwierigkeiten in dieser Aufgabe finden, obgleich die Aerzte mit grosser Sorgfalt auf äusserlich wahrnehmbare Symptome, namentlich die Hauteruptionen, zu achten gewohnt waren und zahlreiche Beobachtungen vorliegen, welche beweisen, dass ihnen weder die Eigentümlichkeiten des »schleichenden« Verlaufes, noch der Darmläsionen beim Abdominaltyphus unbekannt geblieben waren.
Der Name Febris typhodes (=Rauch) ist schon alt, aber nicht für specifische Affectionen, sondern als Bezeichnung eines bestimmten Symptomencomplexes(Geistesnmnebelung) gebraucht. Juncker's Definition (1718) war: »Typhodes dicitur quando inflammatio erysipekicea, vel hepatis, vel ventriculi, vel uteri febrem provocat, quae anxiis, frigidis et inutilibus sudoribus conjuneta est.« Zu allgemeinerer Anwendung in der Pathologie für eine bestimmte Gruppe von Affectionen ist der Ausdruck Typhus erst seit Saüvages (durch seine Nosologia methodica, 17ö9) gelangt. Er und viele seiner Nachfolger beschränken den Namen zwar auf einzelne Krankheiten, die einerseits als Typhus nervosus, hysterico-verminosus, Febris putrida, gastrica, mueosa, Synochus biliosus etc. (Abdominaltyphus) bezeichnet werden, und andererseits auf den Flecktyphus (Typhus castrensis, carcerum, pestilens etc.); nicht wenige spätere Autoren fassten aber unter diesem Namen die mannigfachsten Affectionen zusammen, die mit einem aus gesprochenen »Status typhosus« verliefen.
Eine nicht unwichtige Episode in der Geschichte der typhoiden Krankheiten, wozu auch die spätere Zeit noch manche ähnliche Seitenstücke liefert, bildete die Discussion zwischen zweien der bedeutendsten Aerzte ihrer Zeit, Pringle und De Haen. Der Erstere empfahl für die Behandlung der Febres malignae (carcerum etc.) eine stimulirende, Letzterer bei den Febres petechiales et miliariae dagegen eine blutentziehende Behandlung.
Es stellte sich schliesslich heraus, dass im ersteren Falle der Flecktyphus, im letzteren vorwiegend Fälle von Abdominaltyphus den Gegenstand der Beobachtung bildeten, und-dass die Verwirrung nur durch die ungenaue Definition des Wortes »Petechien« entstanden war.
Allmälig mehrten sich die Beobachtungen über die Specificität des Abdominaltyphnd, besonders gegenüber dem »epidemischen (Fleck-) Typhus«. Indess gelang erst im Laufe dieses Jahrhunderts der bestimmte Nachweis dafür. Während man in England und Frankreich noch längere Zeit an der Identität beider Affectionen festhielt, war in Deutschland schon Hilden-ijrand (1810) einer der Ersten, der genau zwischen Abdominal-und Flecktyphus unterschied. Aber erst durch zahlreiche spätere Arbeiten, unter • denen die Beobachtungen von Gerhard und Pennock: »On the typhus fever, which oecured in Philadelphia in 1836, showing the distmctions between it and Dothienenteritis« (Anier. Jorirn. of med. sciences. 1837) von hervor ragendster Bedeutung waren, gelang es, ihre vollkommene Verschiedenheit zur allgemeinen Anerkennung zu bringen. Erst 1841 anerkannte Louis in der zweiten Auflage seines classischen Werkes »Recherches anat. patholog. et therap. sur la maladie connue sous les noms de fievre typhoide, putride, adynamique, ataxique, bilieuse, muqueuse, gastroenterite, enterite folliculeuse, dothienenterieetc«, worin zuerst eine bestimmte Richtschnur für die Diagnose von anderen continuirlichen Fiebern gegeben wurde, diese speeifische Verschiedenheit. Uebrigens verschloss er (und Chomel) sich dabei nicht der Wahrnehmung, dass die Darmläsionen in keinem Verhältnisse zur Intensität der Krankheit stehen, indem latente Formen derselben vorkommen, bei denen bis zur tödtlichen Perforation die Sj'mptome äusserst gering sind.
Die letzten Jahrzehnte brachten die grosse Reihe der neueren Arbeiten — die anato mischen vorzüglich ausgehend von RoKitansky's plastischer Beschreibung —, welche die Pathologie und Therapie des Abdominaltj'phus in hervorragender Weise gefördert haben.
Eine umfassende Darstellung der Geschichte des Abdominaltyphus giebt Murchison (von mir 1867 deutsch und in dritter Auflage »The continued fevers of Great-Britain«, 1884, kürzlich von Cayley herausgegeben), und v. Liebermeister in v. Ziemssen's Handb. d. spec. Pathol. u. Therapie. 2. Aufl. Auch die Vorlesungen v. Liebermeister's sind zu vergleichen.
Die Verbreitung der Krankheit ist nicht auf einzelne Gebiete beschränkt. Es gietot kaum einen Theil der Erde, von den Polen-bis zum. Aequator, wo nicht das Vorkommen des Abdominaltyphus beobachtet wäre. Doch ist dies in den einzelnen Gegenden in verschie dener Häufigkeit beobachtet. Wenn man die berichtigte Mortalitätsziffer1) zu Grunde legt, sind in den Jahren 1872—1874 von je 10.000 Lebenden im Alter von 20—27 Jahren in Stockholm 19, in München 17, in Berlin 12, in Würzburg 9, in Nürnberg und Breslau 7, dagegen in Amsterdam 5, in Kassel, Kopenhagen, Brüssel, Wien und Strassburg nur 4, in Mainz, Stuttgart, Eotterdam, Leipzig, Hamburg, London, Bremen und Köln sogar nur 2 Ein wohner am Abdöminältyphus gestorben. Bis in die letzten Tage wird von mehr oder weniger ausgedehnten Endenden berichtet, welche bald hier, bald dort vorübergehend oder mehr an dauernd zum Ausbruch gelangen.
Innerhalb der Jahre 1876 (reäpective 1878) bis 1880 starben nach Kugler2) von je 10.000 Einwohnern überhaupt (ohne Berücksichtigung der Altersklassen): in Bukarest 38, in Petersburg 37, in München, Warschau und Basel 7, in Paris 6, in Liverpool 5, inElberfeld, Weimar, Breslau zwischen 4 und 5, in Frankfurt a. 0., Hamburg nnd Wien zwischen 3 und4, in Köln, Nürnberg, Kopenhagen, London, Leipzig, Dresden und Stuttgart zwischen 2 und 3 Personen am Abdominaltyphus. Bemerkenswerth ist hiernach, dass diejenigen Städte, welche am wenigsten den hygienischen Bestrebungen der fortgeschrittenen Culturstaaten folgten, die hüchsten Zahlen für den Abdominaltyphus darbieten. Schon hieraus erhellt, wie sehr es in unserer Hand liegt, seine Verbreitung mindestens einzuschränken.
Bacillenhaufen im Schnitt einer Lymphdrüse mit concentrirter Essigsäure behandelt
Bacillenhaufen im Schnitt einer Lymphdrüse mit concentrirter Essigsäure behandelt

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